Der bleiche König: Roman (German Edition)

Prüfabteilung eine Heimsuchung durch das Phantom. Manchmal auch einfach nur Heimsuchung wie in »Nimm’s Blackwelder nicht übel. Er hatte heute Nachmittag eine kleine Heimsuchung, daher der Tick.« Die meisten Standardprüfer leiden zwar hin und wieder an Halluzinationen, aber nicht alle werden heimgesucht. Sondern nur bestimmte psychische Typen. Und wie man erkennt, dass sie keine echten Geister sind: Jedes Phantom, das einen heimsucht, ist anders, aber alle haben gemeinsam, dass sie sich von den Prüfern, die sie heimsuchen, tiefgreifend, fundamental unterscheiden. Das macht sie so beängstigend. Sie präsentieren sich in der Regel als Einbrüche aus dem Verdrängten extrem rigider, disziplinierter Persönlichkeitstypen; was Analytiker vielleicht den Schatten eines Menschen nennen würden. Hypermaskuline Schlängler werden von affektierten Transen in Dessous und zerronnenem Varieté-Rouge und -Mascara heimgesucht, die um sie herumtunten. Fromme Schlängler sehen Dämonen; prüde sehen sich rekelnde Dirnen oder priapeische Gauchos. Die makellos Hygienischen werden von versifften Gestalten heimgesucht, in deren Klamotten es von Flöhen nur so wimmelt; die unglaublich Pingeligen und Organisierten sehen wimmernde Gestalten mit zerrauften Haaren und Gummibändern am Handgelenk, die in den Tingle-Ablagen fieberhaft nach etwas Wichtigem wühlen, das sie verlegt haben.
    Nicht dass das jeden Tag vorkäme. Phantome befallen nur bestimmte Typen. Anders wahre Geister.
    Geister sind anders. Die meisten Prüfer mit einer gewissen Erfahrung glauben an Phantome; nur wenige wissen von richtigen Geistern oder glauben an sie. Das ist verständlich. Geister können schließlich mit Phantomen verwechselt werden. In gewisser Hinsicht dienen Phantome als ablenkender Hintergrund oder zur Tarnung, die es erschwert, das Faktenmuster richtiger Geister auszumachen. Das ist wie der uralte Kinowitz, dass jemand an Halloween von einem richtigen Geist heimgesucht wird und dem Kind Komplimente für das echt realistische Kostüm macht.
    In Wahrheit wird der Schlänglersaal von Dienststelle 047 von zwei richtigen, nicht halluzinierten Geistern heimgesucht. Niemand weiß, ob es auch in den Immersionistenblöcken welche gibt; diese Blöcke sind eine Welt für sich.
    Die Geister heißen Garrity und Blumquist. Der Löwenanteil der folgenden Informationen stammt von Claude Sylvanshine. Blumquist ist ein nichtssagender, fader, effizienter Standardprüfer, der 1980 unbemerkt an seinem Schreibtisch starb. Einige der älteren Prüfer kennen ihn sogar noch aus der Standardprüfabteilung in den 1970ern. Der andere Geist ist älter. Soll heißen, er stammt aus einer früheren Geschichtsepoche. Garrity muss Mitte des 20. Jahrhunderts als Kontrolleur in der Endabnahme von Mid West Mirror Works gearbeitet haben. Sein Job war es, bei einem bestimmten Zierspiegelmodell jedes einzelne Exemplar, das das Fertigungsband verließ, auf Fabrikationsfehler zu prüfen. Ein Fehler war in der Regel ein Bläschen oder eine Ungleichmäßigkeit in der Aluminiumbeschichtung des Spiegels, das bzw. die das Spiegelbild irgendwie verformte oder verzerrte. Garrity hatte zwanzig Sekunden Zeit, jeden Spiegel zu prüfen. Die Arbeits- und Organisationspsychologie steckte damals noch in den Kinderschuhen, und von nicht körperlichen Stressformen machte man sich noch keine Vorstellung. Im Wesentlichen saß Garrity auf einem Hocker neben einem langsam vorbeiziehenden Fließband, bewegte den Oberkörper in einer komplexen Abfolge von Vierecken und Schmetterlingsformen und prüfte aus nächster Nähe sein Spiegelbild. Das machte er dreimal pro Minute, eintausendvierhundertvierzig Mal pro Tag, dreihundertsechsundfünfzig Tage im Jahr, achtzehn Jahre lang. Am Ende bewegte er seinen Körper in dem komplexen Prüfsystem von Vierecken und Schmetterlingsformen anscheinend auch dann, wenn er nicht im Dienst war und es nirgends Spiegel gab. 1964 oder 1965 erhängte er sich angeblich an einer Dampfleitung in dem Gang, der heute den Nordkorridor bildet, der vom Schlänglersaal im RPZ -Anbau abgeht. Von den Mitarbeitern in 047 weiß nur Claude Sylvanshine Näheres über Garrity, den er selbst nie gesehen hat – und das meiste, was Sylvanshine empfängt, sind die immer gleichen Daten über Garritys Gewicht, Taillenweite, die Topologie optischer Fabrikationsfehler und die Zahl der Striche, die man braucht, wenn man sich mit geschlossenen Augen rasiert. Von den beiden Geistern im Schlänglersaal ist