Der bleiche König: Roman (German Edition)
Mitte, genau hinter Mr Manshardt, und an den Morgen, wenn das Kind mitkam, mit dem Blick nach hinten dahing und ich ihm eine Weile in die großen, strengen, wimpernlosen, grimmig-blauen Augen schauen musste, waren diese Fahrten mit dem Aufzug absolut nicht angenehm, kann ich nur sagen, und trübten mir für einen Großteil des anschließenden Arbeitstages die Stimmung und Konzentrationsfähigkeit.
Im zweiten Stock hatte das Kleinkind in Mr Manshardts Büro ein Gitterbett und außerdem eine moderne geniale mobile Tragevorrichtung, in der es viel Zeit verbrachte, einen großen ringförmigen Apparat aus schwerem blauem Plastik mit einer Art Stoffschlaufe oder -schlinge im Loch in der Mitte, in der das Kind dann halb saß und halb stand – d. h., die Beine des Kindes waren fast durchgedrückt, aber die Schlaufe hielt anscheinend sein Gewicht. Die Vorrichtung oder Station hatte vier kurze gedrungene Stützbeine, die in Plastikräder ausliefen, und war so gedacht, dass das Kind es mit seiner Körperkraft bewegen konnte, wenn auch langsam, ähnlich wie die rollbaren Stühle an unseren Arbeitsplätzen durch bestimmte Beinbewegungen der Revisoren hin- und hermanövriert werden konnten. Soweit ich gesehen habe, weigerte sich das Kind aber, die Vorrichtung zu verschieben, und spielte auch nicht mit den leuchtenden primärfarbenen Spielzeugen und dem kleinen unterhaltsamen Lernspielnippes, der in die Buchsen im blauen Ring eingebaut war. Es vertrieb sich anscheinend auch nie die Zeit mit den Stoffbüchern, Müllwagen und Feuerwehrautos, den Beißringen aus flüssigkeitsgefülltem Kunststoff, komplizierten Mobiles oder dem aufziehbaren, Musik und Tiergeräusche von sich gebenden Spielzeug, mit denen seine Spielzone reichlich versehen war. Es hing einfach nur da, reglos und stumm, und starrte grimmig jeden GS -9-Revisor an, der an den Tagen, an denen Mr Manshardt – dessen Frau emanzipiert war und selbst Karriere machte – das Kind mitbrachte, wofür er vom Bezirksdirektor angeblich eine Sondergenehmigung erhalten hatte, zufällig das kleine Milchglasbüro unseres Gruppenmanagers betrat. Anfangs kamen viele GS -9er unter fadenscheinigen Vorwänden ins Büro und versuchten, sich beim Gruppenmanager einzuschmeicheln, indem sie das Kind anlächelten, sich in Babysprache äußerten oder ihm einen Finger oder Bleistift hinhielten, um vielleicht seinen Greifreflex auszulösen. Mit einem Ausdruck intensiver Geringschätzung starrte das Kind den Revisor aber nur grimmig an, als wäre es hungrig und der Revisor Nahrung, nur leider nicht ganz die richtige. Es gibt kleine Kinder, denen man auf den Kopf zusagen kann, dass sie mal furchterregende Erwachsene werden – dieses Kleinkind war jetzt schon furchterregend. Es war unheimlich und unbehaglich, etwas zu sehen, das noch kaum ein nennenswert ernst zu nehmendes menschliches Gesicht hatte, aber schon eine grimmige, einschüchternde und fast anklagende Miene aufsetzte. Ich selbst hatte schon verhältnismäßig früh jeden Gedanken daran aufgegeben, mich auf dem Umweg über das Kind bei Mr Manshardt beliebt zu machen. Ehrlich gesagt, machte ich mir Sorgen, Gary Manshardt könne mithilfe eines mysteriös-okkulten Elternradars meine Angst und Abneigung aufschnappen.
Im persönlichen Bereich von Mr Manshardts Büroschreibtisch waren Fotos seines Kindes aufgereiht – auf einem Teppich, als Neugeborenes in der Geburtsklinik, in Stiefeln und einem winzigen Kapuzenjäckchen, nackt mit einem roten Eimerchen und Schaufel am Strand usw. usf. – und auf all diesen Fotos sah das Kind grimmig aus. Anscheinend beeinträchtigte seine Gegenwart Manshardt nicht in seinen Büropflichten, die größtenteils administrativer Natur waren und weit weniger echte Konzentration erforderten als die der Revisorengruppe selbst. Sobald der Arbeitstag begann, schien der Gruppenmanager das Kind praktisch zu ignorieren und wurde seinerseits ebenfalls ignoriert. Wenn ich sein Büro aufsuchte, konnte ich machen, was ich wollte: Ich konnte mit dem Kind nichts anfangen. Das Nylontragetuch hing an einem Mantelhaken neben Manshardts Hut und Jackett – er arbeitete am liebsten im Hemd, auch dies ein Privileg der Gruppenmanager. Manchmal roch es im Büro ganz schwach nach Babypuder oder -pipi. Ich wusste nicht, wann und wo der GM das Kind wickelte, und malte mir lieber nicht aus, wie es dabei zuging oder was das Kind dabei für ein Gesicht machte. Ich konnte mir nicht vorstellen, es anzufassen oder von ihm angefasst zu
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