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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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ebenfalls zu räuspern, weil ich nicht unverschämt wirken wollte, und in dieser scheinbar endlosen, erwartungsvollen Zeitspanne merkte ich, dass ich mich diesem Kleinkind fügte, ich respektierte es, unterwarf mich seiner Autorität und wartete, verweilte, beide saßen wir im kleinen und schattenlosen Büro seines Vaters im Wissen, dass ich diesem winzigen weißen furchterregenden Ding fortan aufs Wort gehorchen würde, ich war sein Instrument oder Werkzeug geworden.

§ 36
    Jeder normale Mensch hat Absichten, Anliegen, Intentionen, Ziele. Das Ziel dieses speziellen Jungen war es, die Lippen auf jeden einzelnen Quadratzentimeter seines eigenen Körpers drücken zu können.
    Seine Arme bis zu den Schultern und der größte Teil der Beine bis zu den Knien waren ein Kinderspiel. Nach diesen Körperbereichen stiegen die Schwierigkeiten aber mit der Steilheit eines Küstenschelfs an. Der Junge gelangte zu der Einsicht, dass ihm unvorstellbare Herausforderungen bevorstanden. Er war sechs.
     
    Über den ursprünglichen Animus oder den »Beweggrund« des Jungen, die Lippen auf jeden einzelnen Quadratzentimeter seines Körpers zu drücken, gibt es wenig zu sagen. Eines Tages war er wegen seines Asthmas ans Haus gebunden, es war ein regnerischer und ausgedehnter Vormittag, und anscheinend sichtete er die Werbematerialien seines Vaters. Einige davon überlebten das spätere Feuer. Das Asthma des Jungen galt als angeboren.
    Als Erstes erforderte der Außenbereich seiner Füße unter dem und um den Außenknöchel herum wahre Verrenkungen. (Der Junge dachte zu diesem Zeitpunkt, der Außenknöchel wäre der komische Knubbel am Fußgelenk.) So wie er sich die Sache dachte, musste er sich auf den Teppichboden seines Zimmers setzen, die Innenseite des Knies auf den Boden drücken und Wade und Fuß so weit wie möglich zu einem Neunzig-Grad-Winkel zum Schenkel hochbiegen. Dann musste er sich, so weit er konnte, zur Seite neigen, über den abgespreizten Knöchel und die Außenseite des Fußes beugen, den Hals hinabsenken und mit voll gespitzten Lippen (unter voll gespitzten Lippen stellte sich der Junge zu diesem Zeitpunkt jenen Spitzmund vor, der in Kinder-Comics Küssen bedeutete) einen Abschnitt am Außenfuß ansteuern, auf den er mit löslicher Tinte eine Zielscheibe gemalt hatte, und mühsam gegen den dextrovertierten Druck seiner Rippen anatmen, und so dehnte er sich eines Morgens in aller Frühe immer weiter zur Seite, bis er in der oberen Rückenpartie ein mattes Plopp und dann unsäglichen Schmerz irgendwo zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule spürte. Der Junge schrie nicht auf und weinte auch nicht, sondern verharrte still in dieser gequälten Haltung, bis sein Nichterscheinen am Frühstückstisch seinen Vater nach oben an die Zimmertür brachte. Der Schmerz und die daraus folgende Dyspnoe hielten den Jungen über einen Monat lang der Schule fern. Man kann sich nur fragen, was ein Vater wohl von einer solchen Verletzung bei einem Sechsjährigen hält.
    Doktor Kathy, die Chiropraktikerin des Vaters, konnte die schlimmsten akuten Symptome lindern. Wichtiger noch, es war Dr. Kathy, die den Jungen an Vorstellungen der Wirbelsäule als einem Mikrokosmos heranführte und ihm Vorstellungen von Vorsorge für einen gesunden Rücken, motorischer Mimikry und schrittweisem Herantasten an Körperbeugungen nahebrachte. Dr. Kathy roch leicht nach Fenchel und schien absolut offen, hilfreich und lieb. Das Kind lag bäuchlings auf einem hohen gepolsterten Tisch und hatte das Kinn in eine kleine Mulde gebettet. Sie handhabte seinen Kopf sehr sanft, aber auf eine Art und Weise, die den ganzen Rücken hinab Dinge in Bewegung zu bringen schien. Ihre Hände waren stark und weich, und als sie ihn abtastete, hatte der Junge das Gefühl, sie stelle seinem Rücken Fragen, die sie gleichzeitig beantwortete. An der Wand hatte sie Schaubilder mit vergrößerten Ansichten des menschlichen Rückgrats und all der Muskeln, Faszien und Nervenstränge, die das Rückgrat umgaben und mit ihm verbunden waren. Lutscher waren nirgends zu sehen. Die spezifischen Dehnübungen, die Dr. Kathy dem Jungen auftrug, galten dem Splenius capitis, dem Longissimus cervicis und den tief liegenden Nervenscheiden und Muskeln, die den zweiten und dritten Brustwirbel umgaben, denn die hatte er sich gerade verletzt. Dr. Kathys Lesebrille hing an einer Halskette, und ihr grüner Knöpfpullover sah aus, als bestehe er nur aus Pollen. Man merkte, dass sie alle Menschen gleich

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