Der bleiche König: Roman (German Edition)
betrachten, ihr aber nicht in die Augen sehen. Verschiedene Teile seiner selbst fühlten sich unverbunden an. Sie war klüger als er, und das wussten sie beide. Nicht nur an der Hochschule – Lane Dean studierte Finanz- und Rechnungswesen und schlug sich ganz gut, er blieb am Ball. Sie war ein Jahr älter, sie war zwanzig, es war aber auch mehr – auf Lane hatte sie immer den Eindruck gemacht, auf eine Weise mit ihrem Leben zufrieden zu sein, die nicht nur ihrem Alter zuzuschreiben war. Seine Mutter hatte es auf den Punkt gebracht: Sie weiß, was sie will , und das war die Krankenpflege, kein einfaches Fach am Peoria Junior College, und zusätzlich arbeitete sie als Hostess im Embers und hatte sich ein Auto gekauft. Sie war ernst auf eine Weise, die Lane gefiel. Sie hatte eine Cousine gehabt, die gestorben war, als sie dreizehn oder vierzehn war, die sie lieb gehabt und die ihr nahegestanden hatte. Sie hatte nur das eine Mal darüber geredet. Er mochte ihren Duft und die Flaumhärchen an ihren Armen und wie sie aufjuchzte, wenn etwas sie zum Lachen brachte. Er war einfach gern mit ihr zusammen und unterhielt sich gern mit ihr. Sie meinte es auf eine Weise ernst mit ihrem Glauben und ihren Werten, die Lane mochte und vor der er jetzt, wo er mit ihr auf dem Tisch saß, Angst bekam. Das war schrecklich. Manchmal überkam ihn eine Ahnung, dass er es mit seinem Glauben nicht ernst meinte. Dass er eine Art Heuchler war, wie die Assyrer bei Jesaja, was eine viel schlimmere Sünde als der Termin wäre – er hatte beschlossen, dass er das so glaubte. Er wollte um jeden Preis ein guter Mensch sein und das Gefühl haben, gut zu sein. Er hatte zuvor selten an Hölle und Verdammnis gedacht, dieser Teil des Ganzen fand bei ihm keinen Anklang, und im Gottesdienst schaltete er in der Regel einfach ab und tolerierte es, wenn es um die Hölle ging, so wie man den eigenen Job toleriert, den man halt haben muss, um sich etwas leisten zu können. Auf ihre Tennisschuhe hatte sie in ihren Kursen alles Mögliche draufgekritzelt. Sie saß immer noch so da und sah zu Boden. Mit Kuli geschriebene Notizen oder Hausaufgaben in ihrer säuberlichen runden Handschrift auf dem Gummirand der Schuhe. Lane A. Dean musterte die Haarspangen an der Seite ihres geneigten Kopfs, die wie blaue Marienkäfer aussahen. Der Termin war am Nachmittag, aber als es so früh geklingelt und seine Mutter ihn vom Fuß der Treppe gerufen hatte, da hatte er Bescheid gewusst, und eine schreckliche Leere hatte sich in ihm aufgetan.
Er sagte, er wisse nicht, was er tun solle. Er wisse, wenn er Vertreter wäre und es ihr aufschwatzen würde, wäre das schlimm und falsch. Aber er versuche es zu begreifen, sie hätten darum gebetet und es von allen Seiten betrachtet und besprochen. Lane sagte, sie wisse ja, wie leid es ihm tue, und wenn er fälschlicherweise geglaubt hätte, dass ihre Entscheidung für den Termin gemeinsam gefallen sei, solle sie ihm das bitte sagen, denn er glaube zu wissen, wie sie sich gefühlt haben müsse, als er näher und näher gerückt war, und welche Angst sie gehabt haben müsse, aber was er ihr nicht sagen konnte, war, ob es um mehr als das ging. Er saß völlig still, nur sein Mund bewegte sich, hatte er das Gefühl. Sie antwortete nicht. Wenn sie deswegen noch einmal beten und es besprechen wolle, nun, er sei hier, er sei dazu bereit, sagte er. Er sagte, der Termin könne verschoben werden; sie brauche nur einen Ton zu sagen, und sie könnten anrufen und ihn verschieben, dann hätten sie mehr Zeit, um sich ihrer Entscheidung sicher zu sein. Sie sei ja noch nicht weit, das wüssten sie ja beide, sagte er. Das stimmte, so fühlte er sich, aber gleichzeitig wusste er auch, dass er gleichzeitig auch etwas zu sagen versuchte, damit sie sich öffnete und ihm antwortete, damit er sie sehen, in ihrem Herzen lesen und wissen konnte, was er sagen musste, damit sie es durchzog. Er wusste, dass er das wollte, ohne es sich einzugestehen, denn sonst hätte er als Heuchler und Lügner dagestanden. In einem verschlossenen Teil seiner selbst wusste er, warum er sich niemandem geöffnet und Lebensberatung erbeten hatte, weder bei Pastor Steve noch bei den Gebetspartnern in der Studentengemeinde, weder bei seinen UPS-Kollegen noch der geistlichen Beratung, die er in der alten Kirche seiner Eltern erhalten konnte. Aber er wusste nicht, warum Sheri selbst nicht zu Pastor Steve gegangen war – er konnte nicht in ihrem Herzen lesen. Ihre Ausdruckslosigkeit war
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