Der bleiche König: Roman (German Edition)
nicht zu durchschauen. Er wünschte sich sehnlichst, es wäre nie passiert. Er hatte das Gefühl, er wisse jetzt, warum es wirklich eine Sünde war und nicht nur das Überbleibsel einer früheren Gesellschaft. Er hatte das Gefühl, er wäre dadurch erniedrigt und gedemütigt worden, aber jetzt verstand er es und glaubte, dass solche Regeln ihren Grund hatten. Dass die Regeln mit ihm persönlich als einem Individuum zu tun hatten. Er hatte Gott versichert, dass er seine Lektion gelernt habe. Aber was war, wenn auch das nur das leere Versprechen eines Heuchlers war, der erst im Nachhinein bereute, der Gehorsam gelobte, in Wahrheit aber nur auf Vergebung aus war? Vielleicht kannte er nicht einmal sein eigenes Herz, konnte nicht einmal sich selbst lesen und verstehen. Er musste immer wieder an den 1. Timotheusbrief 6 denken, an den dort erwähnten Heuchler und die Seuche der Fragen und Wortkriege . Er spürte einen schrecklichen inneren Widerstand, begriff aber nicht, was ihm da eigentlich so zuwider war. Das war die Wahrheit. All die verschiedenen Sichtweisen und Methoden, durch die sie gemeinsam zu ihrer Entscheidung gelangt waren, hatten das nie enthalten, dieses eine Wort – denn hätte er es einmal gesagt, hätte er einmal bekannt, dass er sie liebte, dass er Sheri Fisher liebte, dann hätte das alles verändert, dann wäre das ein anderer Standpunkt, eine andere Sichtweise gewesen, etwas grundsätzlich anderes, worum sie gebetet und worüber sie zu entscheiden gehabt hätten. Manchmal hatten sie gemeinsam am Telefon gebetet, in einer Art Geheimsprache, für den Fall, dass jemand anders zufällig den zweiten Hörer abhob. Sie saß immer noch da, als dächte sie nach, in einer Denkerpose fast wie diese eine Statue. Sie saßen auf dem Tisch. Er betrachtete an ihr vorbei den Baum im Wasser. Aber er konnte es nicht sagen, es stimmte nicht.
Er hatte sich aber auch nie geöffnet und ihr geradeheraus gesagt, dass er sie nicht liebte. Das war vielleicht seine Unterlassungssünde. Das war vielleicht der erstarrte Widerstand – wenn er ihr in die Augen sah und ihr sagte, nein, dann würde sie den Termin einhalten und gehen. Das wusste er. Aber irgendetwas in ihm, eine schreckliche Schwäche oder ein Wertemangel, konnte es ihr nicht sagen. Es fühlte sich wie ein Muskel an, den er einfach nicht hatte. Er wusste nicht, warum, er brachte es nicht über sich und konnte auch nicht darum beten. Sie hielt ihn für einen guten Menschen, dem seine Werte etwas bedeuteten. Ein Teil von ihm schien bereit, jemanden mit diesem Glauben und Vertrauen einfach mehr oder weniger anzulügen, und was war er dann? Wie konnte ein solcher Mensch auch nur beten? In Wahrheit fühlte sich das an wie ein Vorgeschmack der Realität dessen, was vielleicht mit Hölle gemeint war. Lane Dean hatte an die Hölle nie als an einen Feuersee geglaubt oder an einen lieben Gott, der die Leute einem brennenden Feuersee übergab – tief in seinem Herzen wusste er, dass das nicht wahr war. Er glaubte an einen lebendigen Gott der Barmherzigkeit, der Liebe und der Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu Jesus Christus, in dem diese Liebe Mensch geworden war. Aber wenn er jetzt hier neben diesem Mädchen saß, das ihm so unbekannt wie das Weltall war, und darauf wartete, dass es ihn mit irgendwelchen Worten auftaute, hatte er das Gefühl, er könne den Saum oder die Umrisse einer echten Vision der Hölle sehen. Er sah zwei große und mächtige Armeen, die einander in seinem Inneren schweigend und feindselig gegenüberstanden. Es würde eine Schlacht, aber keinen Sieger geben. Oder nicht einmal eine Schlacht – die Armeen würden einfach reglos so stehen bleiben, einander mustern und etwas von sich selbst Grundverschiedenes und Fremdartiges sehen, das sie nicht verstehen konnten, sie konnten in den Reden des jeweils anderen nicht einmal Worte ausmachen, konnten ihren Gesichtern nichts ablesen, so erstarrt, feindselig und verständnislos bis ans Ende der Zeit. Zweiherzig, ein Heuchler, sogar vor sich selbst.
Als er den Kopf drehte, glitzerte der See weiter draußen in der Sonne; das Wasser in Ufernähe war nicht mehr schwarz, man konnte ins Flachwasser sehen und sah, dass das Wasser sanft dahinfloss, hierhin und dorthin, und genau so bat er darum, zu sich selbst zurückzufinden, als sich Sheri neben ihm bewegte und ihm zuwenden wollte. Er sah, dass der Anzugträger mit dem grauen Hut jetzt reglos am Seeufer stand, unter dem einen Arm etwas hielt und zum
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