Der bleiche König: Roman (German Edition)
besseres Gefühl dafür zu bekommen, wer sich dort sein Mittagessen holte und wer es von zu Hause mitbrachte, denn verschiedene Persönlichkeitstypen neigten auch zu verschiedenen Optionen beim Mittagessen. Die dritte Mittagswelle bestand hauptsächlich aus Puschenpissern der Schicht von 9 bis 17.30 Uhr, G-2-Saisonarbeitern, die in Zwölf-Mann-Blocks 1040Aer und Steuerabschläge gegencheckten. Teilweise studierten sie am Peoria College of Business oder an der Illinois State University und hatten jetzt Semesterferien. Die SB-Kantine erwies sich als fast voll; Sylvanshine beobachtete, dass jüngere Prüfer eher in Gruppen zum Mittagessen gingen, während ältere, erfahrenere oder spezialisierte Prüfer dazu neigten, allein zu essen und/oder sich alles von zu Hause mitzubringen. Raucher waren gezwungen, draußen in der Gluthitze zu rauchen. In der SB-Kantine saßen Prüfer aus drei oder vier verschiedenen Blocks; Singh und Sylvanshine hätten die Dienstpläne des ersten Quartals gebraucht, um genau sagen zu können, welche Gruppen aus den Blocks an den verschiedenen Tischen saßen.
Sie saßen im ersten Stock in Abschnitt D. Es gab keine Fenster, und die richtige Klimaanlage in Abschnitt D war den Kühlsystemen vorbehalten, daher war es in der SB-Kantine warm und stickig, roch nach Essen aus der Mikrowelle und den verschiedenen Deodorants der Leute. Die Fliesen waren nicht gebohnert, und wenn an den verschiedenen Tischen Stühle gerückt wurden, erzeugte das ein scheußliches Geräusch. Oben hingen an zwei verschiedenen Wänden Uhren, die auf die Sekunde genau gingen.
Singh entwickelte langsam ein Gespür für Prüfer in der Pause. Ein schimmerndes Gefühl von sowohl Erleichterung als auch Anspannung lag im Saal, vergleichbar dem eines Menschen, der nach langem Tauchen an die Oberfläche kommt und tief Luft holt, bevor er wieder untertaucht. Bei manchen Prüfern überstürzten sich die Gedanken, sie redeten ununterbrochen und lachten zu laut; andere wirkten benommen und hatten glasige Augen, waren aus einer mineralischen Trägheit aufgescheucht worden und starrten ihr Essen an, als wollten sie es entziffern.
Die redseligste und geschlossenste Gruppe in der SB-Kantine setzte sich aus zwei Gruppen eines Puschenpisserblocks in Justine Downers Abschnitt zusammen. Alle nicht viel älter als Singh und alle mit an die Brusttaschen geklemmten Ausweisen, ohne die man Blocks weder betreten noch verlassen durfte. Ein Dutzend Leute saß an dem Tisch; bis auf zwei waren alle männlich und auf einer Wellenlänge. Die Augen der G-2er waren glasig, und nach einem Vormittag über Standardformularen überstürzten sich ihre Gedanken. Einige trugen noch ihre Schlimmen Finger. Bei zweien waren die Ausweise blau eingefasst, was Gruppenleiter kennzeichnete; bei ihnen handelte es sich um C. Pulte und K. Evashevsky. Letzterer war in Singhs Hörweite als »So die Schiene Ken« bezeichnet worden, aber er wusste nicht, warum, weil er sich noch nie mit ihm unterhalten hatte und nur seine Akte kannte. Carol Pulte war eine Frau Mitte zwanzig mit großer runder Elton-John-Brille und sinnlichen roten Lippen, die am einen Tischende saß und aus einem Tupperware-Behälter aß. Die andere Frau trank aus einer Limonadendose und zeichnete mit dem Kondenswasser der Dose an der Fingerspitze etwas auf den Plastiktisch. Keith Singh lächelte und signalisierte Pulte, die er bei seiner zweiten internen Weiterbildung kennengelernt hatte und die in der richtigen Beleuchtung als attraktiv gelten konnte, mit den Fingern ein ironisches Peacezeichen. Pulte sah ihn kurz an und verdrehte die Augen, was sich auf das Männergespräch an ihrem Tisch bezog. Sylvanshine konnte sich einmischen, begrüßte alle G-2er, stellte Keith und sich vor und erkundigte sich beiläufig nach jedermanns Befinden sowie dem allgemeinen Tun und Treiben usw. Das Gespräch drehte sich um einen G-2er am Tisch, einen korpulenten Jungen mit witziger Kopfbedeckung, selbstsicherer und in sich geschlossener Körpersprache und schweren Lidern. Ein Junge, wie andere Jungen an der Highschool ihn nur wegen seiner Körpersprache und seiner gelangweilten oder blasierten Miene cool finden. Unter dem Foto auf seinem Ausweis stand T. Hovatter. Im Neonlicht hatte sein Gesicht die Farbe von nassem Blei. Laut einigen anderen Puschenpissern arbeitete der Junge in Sechzigstundenschichten, war im Privatleben anscheinend von extrem asketischer Genügsamkeit und sparte den größten Teil seines Gehalts, um sich ab
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