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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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mal austreten zu dürfen, während sich alle nach ihm umsahen – allein der Gedanke versetzte ihn in Angst und Schrecken.
    Er verstand selbst nicht, warum er solche Angst davor hatte, dass die Leute sein Schwitzen sehen und schräg oder krass finden könnten. Wen juckte es denn, was die Leute dachten? Das sagte er sich immer wieder; er wusste, dass es stimmte. Er sagte sich auch – oft zwischen den Schulstunden in einer Kabine der Jungentoilette nach einem mittelschweren oder starken Anfall, wenn er mit hochgezogener Hose auf der Toilette saß, sich mit dem Toilettenpapier abzutrocknen versuchte, ohne dass sich das Papier auflöste und in kleinen Griebeln und Kügelchen auf der Stirn verteilte, und sich mehrere Lagen Toilettenpapier vorn auf die Haare drückte, um sie zu trocknen – Franklin Roosevelts Rede aus US -Amerikanische Geschichte II in der zehnten Klasse auf: Das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst. Das wiederholte er sich in Gedanken immer wieder. Franklin Roosevelt hatte recht, aber das half nichts – das Wissen, dass die Angst das eigentliche Problem war, war nur eine Tatsache; dadurch ging die Angst aber nicht weg. Manchmal dachte er sogar, wenn er so viel an den Satz aus der Rede dächte, bekäme er nur noch mehr Angst vor der Angst. Und dass er in Wahrheit Angst haben musste vor der Angst vor der Angst – ein endloses Spiegelkabinett der Ängste, die allesamt lächerlich und schräg waren. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er wegen der Schwitzsache und der Angst hastig geflüsterte Selbstgespräche führte, deren er sich gar nicht recht bewusst gewesen war, und so langsam machte er sich wirklich Sorgen, er könne verrückt werden. Bei den meisten Verrückten, die er aus dem Fernsehen kannte, handelte es sich um manisch lachende Menschen, was er inzwischen absolut grotesk fand, so wie einen Witz, der nicht nur nicht komisch ist, sondern auch überhaupt keinen Sinn hat. Sich vorzustellen, über die Anfälle oder die Angst zu lachen, war, als stellte er sich vor, das alles jemandem erklären zu wollen, etwa seinem Fähnleinführer oder dem Gruppenleiter – es war unvorstellbar; das kam überhaupt nicht infrage.
    Die Highschool wurde eine tägliche Qual, obwohl seine Noten sogar noch besser wurden, weil er mehr las und lernte, denn nur wenn er allein war, ganz vertieft, und sich auf etwas anderes konzentrierte, ging es ihm gut. Er begeisterte sich auch für Wortsuch- und Zahlenrätsel, die er fesselnd fand. In der Klasse und in der Schulmensa beschäftigte ihn ausschließlich die fixe Idee, nicht daran zu denken und die Angst nicht den Punkt erreichen zu lassen, ab dem seine Temperatur stieg, seine Aufmerksamkeit einen Tunnelblick bekam und er nur noch die ungesteuerte Hitze und den Schweiß spürte, der ihm im Gesicht und auf dem Rücken ausbrach, denn in dem Augenblick, in dem er die ersten Schweißperlen spürte, ging seine Angst durch die Decke, und er wurde nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht: Wie schaffte er es zur Toilette, ohne Aufmerksamkeit zu erregen? Es passierte nur ab und zu, aber Angst hatte er immer davor, obwohl er nur zu gut wusste, dass gerade die ständige Angst und die fixen Ideen seine Anfälle evozierten. In Gedanken bezeichnete er sie als Anfälle , nicht als Angriffe von außen, sondern in einem Teil seiner selbst entstehend, der ihn verletzte oder irgendwie verriet, so wie in Herzanfall . Ähnlich wurde evozieren sein Codewort für den Zustand angespannter Furcht und Angst, die in der Öffentlichkeit praktisch jederzeit einen Anfall verursachen konnten.
    Um mit den fixen Ideen fertigzuwerden, die in der Schule die Angst evozierten, entwickelte er verschiedene Tricks und Taktiken für den Fall, dass er einen Anfall öffentlichen Schwitzens bekam, der außer Kontrolle zu geraten drohte. Sämtliche Ausgänge eines Raums zu kennen, den er gerade betreten hatte, war dabei kein Trick, das machte er inzwischen ganz automatisch, so wie er auch immer wusste, wie weit es bis zum nächsten Ausgang war und ob er dort hinkommen konnte, ohne viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Schulmensa war beispielsweise so ein Ort, den man spielend verlassen konnte, ohne dass es jemand richtig merkte. Das Klassenzimmer bei einem Anfall im Unterricht zu verlassen, war dagegen ausgeschlossen. Wenn er einfach aufstände und aus dem Raum liefe, wonach er sich bei einem Anfall immer am meisten sehnte, käme es zu allen möglichen Disziplinarmaßnahmen, und

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