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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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saß weit weg von der Heizung mitten in der mittleren Reihe der Schülerpulte in Erd- und Menschenkunde, passte auf und machte sich Notizen zu dem Modul des Handbuchs, das gerade dran war, als ihm unversehens ein schrecklicher Gedanke kam: Was ist, wenn ich jetzt plötzlich schwitzen muss? Und dieser Gedanke, der sich vor allem als schreckliche und urplötzliche Angst präsentierte, die ihn heiß durchfuhr, sorgte an jenem Tag für einen massiven und unaufhaltsamen Schweißausbruch, der sich durch die zusätzliche Überlegung noch verschlimmerte, dass es unheimlich wirken müsse, wenn er schwitzte, obwohl sonst niemand es in der Klasse heiß fand, und er saß ganz still und mit gesenktem Kopf da, während ihm schon spürbare Schweißbäche über das Gesicht liefen, völlig reglos, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen, bevor er zu tropfen anfing und jemand ihn tropfen sah, und der Angst, eine Wischbewegung könne die Aufmerksamkeit auf ihn lenken, und die Leute an den Nachbarpulten könnten sehen, was da los war und dass er ohne jeden Grund wie verrückt schwitzte. Es war das bei Weitem schlimmste Gefühl seines ganzen Lebens, und der ganze Anfall dauerte vielleicht vierzig Minuten, und den restlichen Tag bewegte er sich in einer Art Trance infolge des Schocks und des zwischenzeitlich erhöhten Adrenalinspiegels, und jener Tag war der eigentliche Beginn des Syndroms, denn jetzt begriff er: Je größer seine Angst war, in der Öffentlichkeit einen zerrüttenden Schweißausbruch zu bekommen, desto größer war auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Anfall wie in Erd- und Menschenkunde wiederholte, vielleicht täglich, vielleicht mehr als einmal täglich – und dieses Begreifen löste in ihm mehr Entsetzen, Frustration und inneres Leiden aus, als er bis dahin für menschenmöglich gehalten hätte, und die absolute Blödsinnigkeit und Schrägheit des ganzen Problems machten es noch viel schlimmer.
    Seit jenem Tag in Erd- und Menschenkunde prägten seine Angst vor einer Wiederholung und seine Versuche, diese Angst zu verhindern, zu vermeiden oder zu kontrollieren, praktisch jeden Augenblick seines Tages. Die Angst und die fixen Ideen traten nur im Unterricht und in der Schulmensa auf – nie beim Sportunterricht in der letzten Stunde, denn am Schwitzen im Sport war ja nichts Schräges, also löste es auch nicht die spezifische Angst aus, die dann einen Anfall evozierte. Oder es passierte bei Anlässen mit größerem Menschenandrang wie Pfadfindertreffen oder Weihnachtsessen im stickigen, überhitzten Esszimmer seiner Großeltern in Rockton, wo er die zusätzlichen Hitzetupfen der Tafelkerzen und die Körperwärme seiner Verwandten spürte, die sich um den Tisch scharten, und er hielt den Kopf gesenkt, als studierte er das Porzellanmuster, während sich die Hitze seiner Angst vor der Hitze wie Adrenalin oder Weinbrand in ihm ausbreitete, das körperliche Ausbreiten innerer Hitze, vor der er um jeden Preis keine Angst haben wollte. Wenn er zu Hause allein und bei geschlossener Tür in seinem Zimmer saß und las, dachte er oft nicht einmal daran – ebenso wenig in der Bücherei, in einer der kleinen Privatkabinen, die an offene Würfel erinnerten, wo ihn niemand sehen und er jederzeit aufspringen und gehen konnte.
Anmerkung
Es passierte nur in der Öffentlichkeit, wenn er unter Menschen war, in überfüllten Reihen saß oder an einem lichtüberfluteten Tisch, wo man seinen neuen roten Weihnachtspulli tragen musste und die Schultern und Ellbogen fast schon die der Cousinen berührten, die einem auf beiden Seiten auf die Pelle rückten, wo über den dampfenden Speisen alle gleichzeitig reden wollten und sich ansahen, sodass die Chance groß war, dass sie schon die ersten Stecknadelköpfchen Schweiß auf seiner Stirn und oberen Gesichtshälfte mitbekamen, die dann, wenn die Angst, sie könnten außer Kontrolle geraten, überhandnahm, zu glänzenden Perlen anschwollen und kurz darauf sichtbar zu rinnen anfingen, und wo er sich unmöglich mit der Serviette das Gesicht abtupfen konnte, weil er Angst hatte, wenn er sich im Winter das Gesicht abtupfte, würde dieser schräge Anblick die Aufmerksamkeit seiner Verwandten erst recht auf ihn und die Frage lenken, was mit ihm los sei, und um das zu vermeiden, hätte er seine Seele dem Teufel verkauft. Im Grunde konnte es überall passieren, wo er nicht weggehen konnte, ohne aufzufallen. Sich in der Klasse zu melden und darum zu bitten,

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