Der bleiche König: Roman (German Edition)
öfter abgewischt. Er konnte sich nicht erinnern, dass jemand je ein Wort darüber verloren hatte. Und es roch auch nicht schlimm; er stank nicht etwa. Das Schwitzen war einfach etwas Besonderes an ihm. Manche Kinder waren dick, andere ungewöhnlich klein oder groß, hatten schiefe Zähne, stotterten oder rochen modrig, egal, was sie anhatten – und er war eben jemand, der stark schwitzte, besonders in den schwülen Sommermonaten, in denen er schon schweißgebadet war, wenn er nur in Latzhose auf dem Rad durch Beloit gefahren war. Aber soweit er sich erinnern konnte, war ihm das eigentlich gar nicht aufgefallen.
In seinem siebzehnten Lebensjahr machte es ihm aber etwas aus; die Sache mit dem Schwitzen machte ihn befangen. Das hing natürlich mit der Pubertät zusammen, der Phase, wo einen plötzlich die Frage umtreibt, wie man auf andere Menschen wirkt. Ob irgendwas an einem spürbar unheimlich oder krass ist. Wenige Wochen nach Beginn des neuen Schuljahrs ging ihm zunehmend und deutlich auf, dass er mehr schwitzte als andere Jugendliche. Die ersten Monate in der Schule waren immer heiß, und viele Klassenzimmer der alten Highschool hatten nicht mal Ventilatoren. Er stellte sich unwillkürlich vor, wie sein Schwitzen in der Klasse wohl aussah: das Gesicht unter einer Mischung aus Talg und Schweiß glänzend, das Hemd an Kragen und Achselhöhlen durchweicht, das Haar von den Schweißbächen am Kopf zu nassen, dünnen, unheimlichen Strähnen verklebt. Am schlimmsten war es, wenn er auf seinem Platz womöglich von Mädchen gesehen werden konnte. Die Pulte im Klassenzimmer waren alle eng zusammengeschoben. Allein die Anwesenheit eines hübschen oder beliebten Mädchens in seinem Sichtfeld ließ seine Körpertemperatur ansteigen – er spürte, wie das ungewollt, ja sogar gegen seinen Willen geschah – und den Schweiß ausbrechen.
Anmerkung
Nur hatte er anfangs, als sich in seinem siebzehnten Jahr der Herbst entfaltete, es draußen kühler und trockener wurde, die Blätter sich verfärbten, abfielen und gegen Entgelt zusammengeharkt werden konnten, Grund zu der Annahme, dass das Schwitzproblem in den Hintergrund trat, dass das wahre Problem die Hitze gewesen war und dass es ohne die schwüle Sommerhitze gar nicht mehr auftreten würde. (Er dachte in möglichst allgemeinen und abstrakten Begriffen darüber nach. Auch in Gedanken sprach er das Wort Schweiß möglichst gar nicht aus. Es ging ihm ja schließlich darum, möglichst unbefangen damit umzugehen.) Morgens fröstelte ihn jetzt, und die Klassenräume der Highschool waren nicht mehr heiß oder nur hinten bei den rasselnden Heizkörpern. Ohne sich das ganz bewusst zu machen, beeilte er sich zwischen den Stunden ein bisschen, um so früh im nächsten Klassenraum zu sein, dass er nicht an einem Pult in der Nähe der Heizung sitzen musste, die heiß genug war, um einen Schweißausbruch hervorzurufen. Dabei galt es allerdings, eine prekäre Balance zu wahren, denn wenn er zwischen den Stunden zu schnell durch die Korridore lief, konnte ihm durch diese Anstrengung leichter Schweiß ausbrechen, was seine fixe Idee und im nächsten Schritt auch das Schwitzen verstärken konnte, wenn er das Gefühl hatte, es fiele den Leuten auf. Es gab noch gewisse andere Beispiele des Ausbalancierens und der fixen Ideen, über die er möglichst wenig nachdachte, ohne dass er bewusst hätte sagen können, warum er das tat.
Anmerkung
Inzwischen gab es nämlich verschiedene Grade und Abstufungen des Schwitzens in der Öffentlichkeit, die von einem leichten Film bis hin zu zerrüttenden, unkontrollierbaren, weithin sichtbaren und unheimlichen Schweißausbrüchen reichten. Das Schlimmste war, dass ein Grad zum nächsten führen konnte, wenn er sich deswegen zu viele Gedanken machte, wenn er zu viel Angst hatte, ein leichtes Schwitzen könne schlimmer werden, und es zu sehr zu kontrollieren oder zu unterdrücken versuchte. Die Angst davor konnte es hervorrufen. Das wahre Leiden setzte erst mit der Einsicht in diesen Sachverhalt ein, ein Verstehen, das erst schleichend kam und sich dann mit furchtbarer Abruptheit aufdrängte.
Der für ihn unter Garantie schlimmste Tag seines bisherigen Lebens ereignete sich nach einer für diese Jahreszeit ungewöhnlich kalten Woche Anfang November, als er schon fast den Eindruck gewann, er würde das Problem beherrschen und kontrollieren, und manchmal sogar das Gefühl hatte, es fast vergessen zu können. Er trug Latzhose und ein rostfarbenes Velourshemd,
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