Der bleiche König: Roman (German Edition)
alle Welt einschließlich seiner Eltern würde Erklärungen verlangen – und wenn er am nächsten Tag wieder in die Klasse käme, wüssten alle schon, dass er hinausgestürmt war, und würden wissen wollen, warum er denn so ausgeflippt sei, und unterm Strich zöge er in der Klasse dann jede Menge Aufmerksamkeit auf sich, und die Angst davor, dass alle ihn zur Kenntnis nähmen und ansähen, evozierte den nächsten Anfall. Und selbst wenn er sich tatsächlich meldete und den Lehrer dann doch mal bäte, austreten zu dürfen, würde sich die Aufmerksamkeit all der gelangweilten Schüler in den Pultreihen auf den richten, der sich gemeldet hatte, und alle würden ihn ansehen, wie er dastand, schwitzte, tropfte und ein groteskes Bild abgab. Seine einzige Hoffnung wäre dann, dass er krank aussähe, die Leute könnten glauben, ihm wäre schlecht und er müsste sich womöglich übergeben. Das war einer seiner Tricks – husten oder schniefen und sich unbehaglich die Drüsen betasten, wenn er einen Anfall befürchtete, und wenn der dann außer Kontrolle geriet, konnte er hoffen, dass die Leute vielleicht einfach dächten, ihm wäre schlecht und er hätte an dem Tag im Bett bleiben sollen. Dass er nicht schräg, sondern nur krank war. Dasselbe galt, wenn er in der Mittagspause simulierte, ihm sei unwohl und er könne nichts essen – manchmal aß er nichts, räumte das volle Tablett ab und aß in einer Toilettenkabine ein Sandwich, das er im Plastikbeutel von zu Hause mitgebracht hatte. Dann kamen die Leute vielleicht eher auf den Gedanken, dass ihm schlecht war.
Eine andere Taktik bestand darin, sich im Klassenzimmer möglichst weit hinten an ein Pult zu setzen, sodass die meisten Leute vor ihm saßen und er keine Angst haben musste, sie könnten ihn sehen, wenn er einen Anfall bekam, aber das funktionierte nur in Klassen ohne Sitzplan
Anmerkung
und konnte in dem Albtraumszenario, an das er mit aller Kraft nicht denken wollte, nach hinten losgehen. Und er vermied natürlich die heißen Heizkörper und die Pulte zwischen Mädchen und versuchte, ein Pult ganz am Ende einer Reihe zu ergattern, sodass er notfalls einfach das Gesicht von der restlichen Reihe abwenden konnte, was, subtil durchgeführt, auch nicht schräg aussah – er streckte einfach die Beine aus der Reihe in den Gang, schlug sie an den Knöcheln übereinander und blieb so sitzen. Er fuhr auch nicht mehr mit dem Rad zur Schule, weil ihm vom Radfahren warm wurde, was schon vor der ersten Stunde Angst evozierte. Ein weiterer Trick, den er ab Beginn des dritten Schulquartals praktizierte, bestand darin, ohne Wintermantel zur Schule zu gehen, damit er fror und sein Nervensystem praktisch auf Eis gelegt wurde, was aber nur ging, wenn er als Letzter das Haus verließ, denn seine Mutter hätte Zustände gekriegt, wenn sie gesehen hätte, wie er ohne Mantel aus dem Haus ging. Es gab auch die Möglichkeit, unzählige Kleiderschichten übereinander anzuziehen, aus denen er sich dann herausschälen konnte, wenn er in der Klasse einen Anfall nahen spürte, obwohl das Kleiderablegen schräg aussehen musste, wenn er gleichzeitig hustete und seine Drüsen betastete – seiner Erfahrung nach legten kranke Menschen keine Kleidungsstücke ab. Er spürte vage, dass er Gewicht verlor, wusste aber nicht, wie viel. Er gewöhnte sich auch an, sich die Haare mit einer bestimmten Geste aus der Stirn zu streichen, was er vor dem Badezimmerspiegel übte, bis es wie eine unbewusste Gewohnheit wirkte, er sich in Wirklichkeit aber den Schweiß aus der Stirn in die Haare wischen konnte, wenn er einen Anfall bekam – aber auch dabei galt es eine prekäre Balance zu wahren, weil die Geste ab einem gewissen Punkt nutzlos war, denn wenn seine Haare vorn erst feucht genug waren, um zu diesen unheimlichen dünnen Haarbüscheln und -strähnen zu verkleben, machte das für Leute, die ihm etwa einen Blick zuwarfen, nur um so deutlicher, dass er schwitzte. Und in dem Albtraumszenario, vor dem er am meisten Angst hatte, saß er ganz hinten und bekam einen so zerrüttenden und unkontrollierbaren Anfall, dass dem Lehrer ganz vorn im Klassenzimmer auffiel, wie durchweicht er war und dass ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief, sodass er seinen Unterricht unterbrach und ihn fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei, woraufhin sich dann alle zu ihm umdrehten. In seinen Albträumen richtete sich ein Spot auf ihn, wenn sie sich auf ihren Stühlen zu ihm umdrehten, um zu sehen, warum der Lehrer so
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