Der bleiche König: Roman (German Edition)
um ihn so auf die Palme zu bringen. An die Reaktion meiner Mutter kann ich mich nicht erinnern und weiß auch nicht mehr genau, warum ich die Bemerkung überhaupt aufschnappen konnte, denn das Belauschen der eigenen Eltern passt eigentlich doch nur zu einem sehr viel kleineren Kind.
Meine Mutter war weit mitfühlender, und wenn mein Vater mir die Daumenschrauben anlegte und die Platte von meiner Ziellosigkeit auflegte, hielt sie mir bis zu einem gewissen Grad die Stange und sagte, ich versuche eben noch, meinen eigenen Weg im Leben zu finden, und nicht jeder Weg würde wie eine Flughafenstartbahn mit Neonscheinwerfern beleuchtet, und ich sei es mir schuldig, meinen Weg zu suchen und mich auf meine eigene Weise zu entfalten. Nach dem, was ich an Grundlagen der Psychologie mitbekommen habe, ist das eine ganz typische Familiendynamik – der Sohn ist ein zielloser Taugenichts, die mitfühlende Mutter glaubt an sein Potenzial und setzt sich für ihn ein, der Vater wird fuchsig, lässt kein gutes Haar am Sohn und legt ihm Daumenschrauben an, aber wenn’s hart auf hart kommt, berappt er trotzdem immer für die nächste Uni. Ich erinnere mich, dass mein Vater im Zusammenhang mit diesen Studiengebühren Geld immer »das universelle Lösungsmittel für Ambivalenz« nannte. Nebenbei bemerkt, waren meine Eltern zu dieser Zeit einvernehmlich geschieden, was für jene Ära ebenfalls typisch ist, also spielte psychologisch auch diese ganze typische Scheidungsdynamik mit hinein. Dieselbe Dynamik entfaltete sich wahrscheinlich in Familien in ganz Amerika – das Kind versucht quasi den passiven Aufstand, ist finanziell aber noch von den Eltern abhängig, was die ganzen typischen psychologischen Begleiterscheinungen hervorruft.
Sei’s drum, das alles spielte sich im Großraum Chicago in den Siebzigern ab, einer Zeit, die heute so abstrakt und verschwommen wirkt, wie ich es damals war. Das haben der Service und ich vielleicht gemeinsam – das vergangene Jahrzehnt scheint viel länger her zu sein, als es in Wahrheit zurückliegt, weil seither so viel passiert ist. Was mich angeht, hatte ich Schwierigkeiten, überhaupt auf etwas zu achten, und die Dinge, an die ich mich erinnern kann, wirken heute irgendwie sinnlos. Ich meine richtige Erinnerungen, nicht nur so allgemeine Eindrücke. Ich erinnere mich an ziemlich lange Haare, also auf allen vier Seiten lang, aber trotzdem wurden sie grundsätzlich links gescheitelt und mit Spray aus einer dunkelroten Dose in Form gehalten. Ich erinnere mich an die Farbe dieser Dose. Wenn ich an die damaligen Frisuren denke, zuck ich immer fast zusammen. Ich kann mich an meine Klamotten erinnern – viele Braun- und flammende Orangetöne, rot dominierte Paisleymuster, Cordschlaghosen, Azetat und Nylon, ausgestellte Kragen, Jeanswesten. Ich hatte ein Peace-Zeichen aus Metall als Anhänger, das ein halbes Pfund gewogen haben muss. Docksiders, Yellow Boots von Timberlands und glänzende, halbhohe braune Lederstiefel mit Reißverschlüssen an den Seiten, von denen unter den Schlaghosen nur die spitz zulaufende Zehenpartie zu sehen war. Die sensible Lederkette um den Hals. Die kommerziellen Psychedelia. Die obligatorische Wildlederjacke. Die Latzhosen, deren Aufschläge nachschleiften und weiß ausfransten. Breite Gürtel, Kniestrümpfe und Turnschuhe aus Japan. Die Standardaufmachung. Ich erinnere mich an die runden bauschigen Winterjacken aus Nylon und Daunen, in denen wir alle wie Luftballons aussahen. Die kratzigen weißen Malerhosen mit Schlaufen für alle möglichen Werkzeuge außen an den Oberschenkeln. Ich erinnere mich, dass alle Gerald Ford verachteten, weniger weil er Nixon begnadigt hatte, als weil er immerzu stürzte. Alle verachteten ihn. Knallblaue Designerjeans. Ich erinnere mich an die feministische Tennisspielerin Billie Jean King, die im Fernsehen einen anscheinend alten und schwachen Mann besiegte, und wie aufgeregt meine Mutter und ihre Freundinnen deswegen waren. Begriffe wie »Chauvischwein«, »Frauenbewegung« und »Stagflation« kamen mir damals alle vage und unbestimmt vor, eine Geräuschkulisse, die man nur mit halbem Ohr wahrnimmt. Ich kann mich nicht erinnern, was ich mit meiner Aufmerksamkeit anfing, ob sich die überhaupt auf irgendetwas richtete. Ich machte nie etwas, aber gleichzeitig konnte ich normalerweise nicht stillsitzen und mir bewusst machen, was eigentlich vor sich ging. Das lässt sich schwer erklären. Irgendwie erinnere ich mich an einen jüngeren Cronkite,
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