Der bleiche König: Roman (German Edition)
an Barbara Walters und Harry Reasoner – ich glaub, ich hab aber nicht viel Nachrichten gesehen. Auch das ist wahrscheinlich typischer, als ich damals dachte. Was man in der Standardprüfabteilung auf jeden Fall lernt, ist, wie desorganisiert und unaufmerksam die meisten Leute sind und wie wenig Beachtung sie allem schenken, was jenseits ihres beschränkten Horizonts liegt. Irgendwer namens Howard K. Smith war auch groß in den Nachrichten, erinnere ich mich. Das Wort Ghetto hört man heutzutage praktisch gar nicht mehr. Ich erinnere mich an Acapulco Gold vs. Colombia Gold, Ritalin vs. Ritadex, Cylert vs. Obetrol, Laverne & Shirley, Carnation Instant Breakfast, John Travolta, Disco Fever und Kinder-T-Shirts mit THE FONZ drauf. Und » KEEP ON TRUCKIN’ «-Shirts, die meine Mutter gern trug und auf denen die Schuhe und Sohlen der Gehenden immer abnorm vergrößert waren. Dass ich wie die meisten Kinder in meinem Alter Tang lieber mochte als echten Orangensaft: Mark Spitz und Johnny Carson und dass bei der Zweihundertjahrfeier 1976 im Fernsehen eine Flotte antiker Schiffe in einen Hafen einlief. Dass wir in der Highschool nach dem Unterricht kifften und dann fernsahen und dazu Tang mit dem Finger aus der Dose leckten, einen Finger anleckten und reinsteckten, immer wieder, bis ich irgendwann ungläubig sah, wie leer das Glas schon war. Dass ich mit meinen Kaputtnikfreunden abhing usw. usf. – und nichts davon hatte den geringsten Sinn. Es war, als wäre ich tot oder würde schlafen, ohne es zu merken, oder wie man bei uns zu Hause sagte »Dumm geboren und nichts dazugelernt«.
Ich erinnere mich, dass ich an der Highschool Dexedrin von einem Jugendlichen bekam, dessen Mutter ihm das hatte verschreiben lassen, damit er Schwung entwickelte, und dass das so komisch schmeckte und erstaunlicherweise dafür sorgte, dass der Zählzwang beim Lesen und Sprechen verschwand – Black Beauties hießen die –, aber nach einer Weile bekam man davon Kreuzschmerzen und absolut scheußlichen Mundgeruch. Man hatte einen Geschmack im Mund, der an den Geruch der seit Ewigkeiten toten Frösche in den trüben Gefäßen der Biologiesammlung erinnerte, wenn man da den Deckel abschraubte. Mir wird immer noch fast schlecht, wenn ich bloß daran denke. Dann gab es da die Zeit, in der meine Mutter richtig aufgebracht war, weil Richard Nixon so mühelos wiedergewählt wurde, woran ich mich erinnern kann, weil ich ungefähr in derselben Zeit Ritalin ausprobierte, was ich bei einem Typ in Erd- und Menschenkunde kaufte, dessen kleiner Bruder in der Grundschule Ritalin von einem Arzt bekommen haben muss, der bei seinen Rezepten anscheinend keine große Übersicht hatte, und manche Leute fanden, Ritalin wäre im Vergleich zu Black Beauties nichts Besonderes, aber ich mochte das sehr, erstens weil ich dadurch endlich längere Zeit stillsitzen und aufpassen konnte und den Unterricht sogar interessant fand, und das fand ich ehrlich richtig gut, aber da war schwer ranzukommen, also an Ritalin jetzt, zumal der kleine Bruder in der Grundschule anscheinend irgendwann ausflippte, weil er kein Ritalin bekommen hatte, und die Eltern und der Arzt dann die Unregelmäßigkeiten bei der Einnahme entdeckten, und plötzlich gab es kein Pickelgesicht mit rosa Sonnenbrille mehr, das aus seinem Spind in der Turnhalle der Drittklässler Ritalinpillen für vier Dollar verkaufte.
Ich meine mich zu erinnern, dass mein Vater 1976 ausdrücklich eine Präsidentschaft Ronald Reagans prophezeite und sogar eine Wahlkampfspende überwies – obwohl ich im Rückblick der Meinung bin, dass Reagan ’76 gar nicht kandidierte. So sah mein Leben vor dem plötzlichen Richtungswechsel aus, der dann dazu führte, dass ich zum Service ging. Mädchen trugen Mützen oder Jeanshüte, aber Typen galten als total uncool, wenn sie Hüte trugen. Über Hüte machte man sich lustig. Baseballmützen waren für die Proleten im Süden. Ältere und seriöse Männer trugen draußen aber manchmal noch steife Herrenhüte. An den Hut meines Vaters erinnere ich mich heute fast besser als an das Gesicht darunter. Oft versuche ich mir vorzustellen, wie das Gesicht meines Vaters – also seine Miene und seine Augen – aussah, wenn er allein war, wenn er allein in seinem Büro in der Rathaus-Dépendance in der City saß und niemand da war, für den er eine spezielle Miene aufsetzen musste. Ich erinnere mich, dass mein Vater am Wochenende karierte Shorts und schwarze Socken trug, dass er so den Rasen mähte,
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