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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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dass ich manchmal einen Blick aus dem Fenster warf, um zu sehen, wie er in diesem Aufzug aussah, und dass es mir richtig peinlich war, mit ihm verwandt zu sein. Ich erinnere mich, dass sich alle als Samurai ausgaben oder in den verschiedensten Kontexten um »Verzeihung!« baten – das war cool. Wenn wir Anerkennung oder Begeisterung zeigen wollten, sagten wir stark . An der Uni hörte man fünftausendmal am Tag das Wort stark . Ich erinnere mich an meine Versuche, mir an der DePaul Koteletten stehen zu lassen, die ich am Ende immer wieder abrasierte, weil sie ab einer bestimmten Länge einfach nur noch an Schamhaare erinnerten. Den Geruch nach Brylcreem im Hutband meines Vaters, Deep Throat, Howard Cosell und dass am Hals meiner Mutter an beiden Seiten Sehnen vortraten, wenn Joyce und sie lachten. Wie sie die Arme schwenkte oder sich krümmte. Mom war immer eine sehr körperliche Lacherin – ihr ganzer Leib beteiligte sich.
    Auch das Wort soft wurde bei jeder Gelegenheit benutzt, obwohl ich das von Anfang an nicht abkonnte; ich mochte es einfach nicht. Wahrscheinlich benutzte ich es trotzdem manchmal, ohne es zu merken.
    Meine Mutter gehört zu diesem irgendwie schlaksigen Typ älterer Frauen, der im Alter fast mager und zäh wird, statt Fett anzusetzen, sie wurde dürr und spitzknochig, und ihre Wangenknochen traten noch deutlicher hervor. Ich weiß, dass ich manchmal an Dörrfleisch denken muss, wenn ich sie wiedersehe, und mir wegen dieser Assoziation dann Vorwürfe mache. In ihrer Blütezeit war sie aber ziemlich attraktiv, und der spätere Gewichtsverlust war teilweise nervlich bedingt, denn nach der Geschichte mit meinem Vater ging es mit ihren Nerven bergab. Ein anderer Grund, warum sie sich meinem Vater gegenüber so für mich einsetzte, wenn ich mich von einer Uni zur nächsten treiben ließ, war zugegebenermaßen das alte Problem mit dem Lesen, das ich an der Grundschule gehabt hatte, als wir noch in Rockford wohnten und mein Vater für die City of Rockford arbeitete. Das war Mitte der Sechziger, an der Machesney Elementary. Ich machte da plötzlich eine Phase durch, in der ich nicht lesen konnte. Ich meine, also ich konnte schon lesen – meine Mutter wusste, dass ich lesen konnte, weil wir Kinderbücher zusammen gelesen hatten. Aber statt einen Text zu lesen, zählte ich an der Machesney fast zwei Jahre lang nur die Wörter, als wäre Lesen dasselbe wie Wörterzählen. Der Satz »Dann kam mein Freund Jello und rettete mich vor den Schweinen« entsprach beispielsweise elf Wörtern, die ich von eins bis elf durchzählte, und nicht einem Satz, der den guten alten Jello in dem Buch besonders sympathisch machte. Es war ein seltsames Problem in meiner entwicklungsmäßigen Verdrahtung, das für viel Unruhe und Beschämung sorgte und dazu beitrug, dass wir in den Großraum Chicago zogen, denn eine Weile sah es so aus, als müsste ich auf eine Sonderschule in Lake Forest gehen. Ich habe kaum Erinnerungen an diese Zeit, außer dem Gefühl, dass ich eigentlich weder die Lust noch die Absicht hatte, Wörter zu zählen, aber einfach nicht anders konnte – es war frustrierend und seltsam. Es wurde schlimmer, wenn ich unter Druck stand oder nervös war, was für solche Sachen typisch ist. Dass meine Mutter es so energisch verteidigte, dass ich auf meine eigene Weise lernte und Erfahrungen machte, geht zum Teil jedenfalls auf diese Zeit zurück, in der der Schulbezirk Rockford auf verschiedenste Weisen, die sie weder hilfreich noch fair fand, auf das Leseproblem reagierte. Ihre feministische Sensibilisierung und ihr Engagement in der Frauenbewegung der Siebziger gehen teilweise wahrscheinlich auch auf jene Zeit zurück, in der sie gegen die Bürokratie des Schulamts kämpfte. Manchmal falle ich heute noch in die Gewohnheit zurück, Wörter zu zählen, d. h., meistens läuft das Zählen parallel zum Lesen oder Reden, es ist eine Art Hintergrundgeräusch, ein unbewusster Prozess ähnlich wie das Atmen.
    Ich habe beispielsweise 2.735 Wörter gesagt, seit ich hiermit angefangen habe. Das soll natürlich heißen, 2.735 Wörter, bevor ich »Ich habe beispielsweise« gesagt habe, also 2.738, wenn man »Ich habe beispielsweise« mitzählt, was ich natürlich tue. Eine Zahl zähle ich als ein Wort, egal, wie groß sie ist. Nicht dass das wirklich etwas zu bedeuten hätte – es ist eher eine Art geistiger Tick. Ich kann mich nicht genau erinnern, wann das angefangen hat. Ich weiß, dass ich keine Probleme hatte, lesen zu

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