Der bleiche König: Roman (German Edition)
Brechreiz. Ich mochte aber auch wie praktisch alle anderen, wenn sie nicht gerade evangelikale Christen waren oder zum »Campus für Christus« gehörten, Marihuana, das im Großraum Chicago damals Pot oder »Blow« genannt wurde (Kokain wurde von keinem meiner Bekannten Blow genannt, und nur Möchtegern-Hippies nannten Pot noch »Gras«, was in den Sechzigern der angesagte Begriff gewesen, inzwischen aber längst aus der Mode gekommen war). Am meisten Pot hatte ich an der Highschool geraucht, kiffte aber auch an der Uni manchmal noch, wobei ich heute den Eindruck habe, dass ich das nur machte, weil alle das machten – am Lindenhurst rauchten z. B. fast alle immerzu Marihuana, mittwochs sogar ganz öffentlich im South Quad, das wurde dann »Haschermittwoch« genannt. Ich möchte betonen, dass meine Kiffertage heute, wo ich beim IRS bin, natürlich längst hinter mir liegen. Schon weil der Service streng genommen ein Exekutivorgan ist, und da wäre das falsch und verlogen. Angeblich steht die ganze Kultur des Geschäftsbereichs Steuerprüfung dem Potkonsum ablehnend gegenüber, denn auch Standardprüfungen erfordern eine hellwache, organisierte und methodische geistige Verfassung, man muss sich über lange Zeit konzentrieren können und, wichtiger noch, die Fähigkeit besitzen, zu wählen, worauf man sich konzentriert und was man ignoriert, eine Fähigkeit, die vom Marihuana praktisch sofort zerstört würde.
Die ganze Zeit über tauchte damals aber immer wieder sporadisch die Sache mit dem Obetrol auf, das chemisch mit Dexedrin verwandt ist, aber nicht mit dem fürchterlichen Mundgeruch und Nachgeschmack von Dexedrin einhergeht. Es ist auch mit Ritalin verwandt, aber viel einfacher zu bekommen, da Obetrol Mitte der Siebziger mehrere Jahre lang der bevorzugte Appetitzügler übergewichtiger Frauen war, und das mochte ich sehr, teilweise aus demselben Grund, aus dem ich davor Ritalin so gemocht hatte, teilweise – in der späteren Zeit, fünf Jahre nach der Highschool – aber auch aus anderen Gründen, die nicht so leicht zu erläutern sind. Mein Faible für Obetrol hatte mit einer gesteigerten Bewusstheit zu tun, was ich für mich »Verdoppeln« nannte. Das ist schwer zu erklären. Nehmen wir z. B. noch mal Pot – manche Leute sagen ja, das Kiffen macht sie paranoid. Ich habe in manchen Situationen zwar gern Pot geraucht, aber das Problem war etwas spezieller – Pot machte mich befangen, und zwar manchmal so sehr, dass ich mich kaum noch unter Menschen traute. Auch deswegen fand ich es so unangenehm und verkrampft, wenn ich mit Joyce und meiner Mutter kiffte – in Wahrheit habe ich am liebsten allein gekifft, und Pot war dann am besten, wenn ich allein high werden und abheben konnte. Ich sage das nur als Gegensatz zu Obetrol, was man entweder als normale Kapsel schlucken konnte, oder man drehte deren Hälften auseinander, pulverisierte die winzigen Kügelchen und sniefte das Pulver wie Kokain mit einem Strohhalm oder zusammengedrehten Geldschein. Beim Sniefen brennt Obetrol aber tierisch in der Nase, und deshalb hab ich das immer ganz altmodisch geschluckt, was ich für mich Obetrollen nannte. Und ich hab übrigens auch nicht dauernd obetrollt – das diente mehr der Entspannung und war auch nicht so leicht zu kriegen, weil es davon abhing, ob die übergewichtigen Mädchen an der Uni oder im Wohnheim es mit ihrer Diät ernst nahmen, was wie immer bei so was mal der Fall war und mal nicht. Eine Kommilitonin an der DePaul, von der ich fast ein ganzes Jahr lang mein Obetrol bekam, war nicht mal zu dick – ihre Mutter schickte ihr die Kapseln, seltsamerweise immer zusammen mit selbst gebackenen Keksen – die Mutter muss wegen Essen und Gewicht massive psychologische Konflikte gehabt haben, die sie auf ihre Tochter projizierte, die nicht direkt ein heißes Gerät war, aber definitiv cool und blasiert genug, um auf die Gewichtsneurose ihrer Mutter mit einem achselzuckenden »Was soll’s« zu reagieren, und sie hatte nichts dagegen, mir das Obetrol für zwei Dollar die Kapsel zu überlassen und sich die Kekse mit ihrer Mitbewohnerin zu teilen. Dann war da noch ein Typ im Hochhauswohnheim an der Roosevelt, der sie gegen seine Narkolepsie verschrieben bekommen hatte – manchmal schlief der einfach ein, egal was er gerade machte, und der musste Obetrol aus medizinischen Gründen nehmen, weil das gegen Narkolepsie anscheinend sehr gut war, und wenn er die Spendierhosen anhatte, verschenkte er ab und zu welche,
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