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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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drahtiger als meine, und bei feuchtem Wetter lockten sie sich hinten etwas. Sein Nacken war immer rot; insgesamt hatte er einen rosigen Teint, so wie gedrungene ältere Männer rosige oder gerötete Gesichter haben. Teils war die Röte wohl angeboren, teils psychisch bedingt – wie die meisten Männer seiner Generation war er gleichzeitig nervös und extrem beherrscht, eine Typ-A-Persönlichkeit, aber mit einem dominanten Über-Ich und einer so ausgeprägten Affektkontrolle, dass sie als ostentative Contenance und Präzision der Bewegungsabläufe rüberkam. Er gestattete sich praktisch nie ein offenes oder deutliches Mienenspiel. Dabei war er kein ruhiger Mensch. Er sprach oder handelte nicht nervös, stand innerlich aber immer unter Strom – ich erinnere mich, dass er immer ein leichtes Summen von sich zu geben schien, wenn er sich ausruhte. Wenn der Unfall nicht gewesen wäre, nehme ich im Nachhinein an, hätte er sich wohl nur wenige Jahre später wegen Bluthochdruck behandeln lassen müssen.
    Ich erinnere mich, dass ich das Auftreten oder die Haltung meines Vaters für einen eher kleinen Mann immer ungewöhnlich fand – kleine Männer halten sich aus naheliegenden Gründen oft kerzengerade –, weil er nicht zusammengesackt ging, aber an der Taille etwas vorgebeugt, leicht angewinkelt, was den Eindruck von Anspannung verstärkte, oder als hätte er immer mit Gegenwind zu kämpfen. Ich weiß, dass ich das nie verstanden habe, bis ich dann zum Service kam und die Körperhaltung älterer Steuerprüfer sah, die jahrelang von morgens bis abends an einem Schreibtisch oder Tingle-Tisch sitzen, sich vorbeugen und Steuererklärungen vor allem danach prüfen, ob sie zur Revision weitergeleitet werden müssen. Anders gesagt, es war die Haltung eines Menschen, der im Berufsalltag ganz still an einem Tisch sitzt und jahrelang konzentriert etwas bearbeitet.
    Ich weiß eigentlich kaum etwas über den Arbeitsalltag meines Vaters und was dieser umfasste, auch wenn ich heute nur zu gut weiß, was Kosteneffizienz ist.
    Auf den ersten Blick könnte meine Entscheidung für eine Tätigkeit im IRS mit dem Unfall meines Vaters zusammenhängen – humanistischer ausgedrückt, mit dem »Verlust« eines Vaters, der seinerseits Bilanzprüfer war. Das Fachgebiet meines Vaters waren Abrechnungssysteme und -prozesse, was eigentlich mehr mit Datenverarbeitung als mit Rechnungswesen im engeren Sinne zu tun hat, wie ich später erfahren sollte. Was mich angeht, bin ich aber überzeugt, dass ich in jedem Fall heute beim Service wäre, nachdem das dramatische Ereignis, an das ich mich gut erinnern kann, im anschließenden Herbst im dritten Semester nach meiner Rückkehr an die DePaul meine Lebensauffassung und Weltsicht grundlegend geändert hatte und ich wieder Grundlagen der Buchführung belegte sowie Amerikanische Verfassungstheorie und -praxis, was auch so ein Seminar war, in dem ich am Lindenhurst keinen Schein gemacht hatte, weil ich mich einfach nicht genug auf den Hosenboden gesetzt hatte. Es könnte allerdings schon stimmen, dass ich das – also Grundlagen der Buchführung – zumindest teilweise belegt habe, um meinem Vater eine Freude zu machen, Abbitte zu leisten oder wenigstens den Selbsthass etwas zu mildern, den ich empfunden habe, nachdem er Zeuge der eben geschilderten nihilistischen Szene in unserem Wohnzimmer geworden war. Es kann nur wenige Tage gedauert haben, bis ich nach dieser Szene und der Reaktion meines Vaters darauf mit dem CTA- Nahverkehrszug nach Lincoln Park gefahren bin und versucht habe, mich für die letzten beiden Jahre – vier Semester nach Scheinen – wieder an der DePaul einzuschreiben, obwohl ich mich wegen bestimmter Formalitäten offiziell erst im Herbst ’77 wieder einschreiben konnte – eine lange Geschichte, die auf einem anderen Blatt steht –, und weil ich mich auf den Hosenboden setzte, meinen Stolz über Bord warf und außerdem Nachhilfe bei Abschreibungs- und Tilgungsplänen bekam, bestand ich diesmal die Prüfungen im Herbstsemester 1978, und zwar auch in der DePaul-Version von Amerikanischer Verfassungstheorie und -praxis – was dort zwar Amerikanische Verfassungsgeschichte hieß, aber so ziemlich auf das Gleiche wie am Lindenhurst hinauslief –, wenn auch nicht gerade mit berauschenden Abschlussnoten, denn für die Abschlussprüfungen in diesen beiden Seminaren hatte ich mich nicht mehr gründlich genug vorbereitet wegen des (irgendwie ironischen) dramatischen Ereignisses, das ich

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