Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blinde Passagier

Der blinde Passagier

Titel: Der blinde Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Weidenmann
Vom Netzwerk:
Schimmelpfennig bisher so alles erlebt hatte.
    „Nummer drei ist leider noch recht kindisch“, bemerkte
    Hiroshi einmal zwischendurch, als sein jüngster Bruder nicht aufhören wollte, vor Vergnügen in die Hände zu klatschen.
    „Wieso Nummer drei?“ fragte Peter Schimmelpfennig. „Hat er keinen Namen?“
    „Innerhalb der Familie spielt der Name keine Rolle“, meinte Hiroshi lächelnd. „Ich bin zum Beispiel der Älteste, also der Erstgeborene. Meine Geschwister müssen mich deshalb mit ,Erster Sohn’ ansprechen. Und ich sage zu meinem jüngsten Bruder .Nummer drei’ und zu dem älteren ‚Nummer zwei’. Schwestern zählen nicht.“
    „Und deshalb sind Mädchen von der Numerierung ausgeschlossen?“ grinste Peter Schimmelpfennig.
    Schließlich wurde ausführlich besprochen, was Hiroshi seinem neuen Freund morgen von Tokio zeigen sollte. Herr Uchida arbeitete als Angestellter bei einer Versicherung und bedauerte es, daß er nicht einfach zu Hause bleiben und mitkommen konnte. „Aber ich überlege mir, wie wir es machen, daß man dich nicht überall sofort erkennt“, ließ er durch seinen Sohn übersetzen. „Ich denke da an Yoshi. An Yoshi Shutoku. Er ist der Beste in meinem Judo-Kurs. Vielleicht kann er uns helfen.“
    Später wünschte man sich unter vielen Verbeugungen eine „gute Nacht“.
    Frau Uchida hatte in Hiroshis Zimmer noch eine zweite Matratze auf den Boden gelegt.
    „Das Kopfkissen ist hart wie Holz“, bemerkte Peter Schimmelpfennig, als er unter die dünne Bettdecke gekrochen war.
    „Du wolltest doch Tokio kennenlernen“, lachte Hiroshi und machte das Licht aus.
    Das ganze Zimmer schien aus Sperrholz und Reispapier gemacht zu sein. Man hörte durch die Wände leise Schritte und Flüstern. Vermutlich hatten sich „Nummer drei“ und „Nummer zwei“ noch etwas zu erzählen. Ein Radio spielte ganz leise japanische Musik. Die Töne fielen wie Regentropfen von den Instrumenten. Und wenn draußen auf der Straße ein Auto vorbeifuhr, wanderten seine Lichter über Decke und Wände.
    „Mein Vater hat den roten Gürtel“, sagte Hiroshi in die Stille. „Das bedeutet, daß er zu den allerbesten Judokämpfern gehört.“ Und eine Weile später meinte er noch: „Du solltest einmal zum Chrysanthemenfest in Tokio sein.“
    Am anderen Morgen wartete Vater Uchida bereits mit einem jungen Mann, dem sein Anzug um zwei Nummern zu klein war. Er erschien für einen Japaner ziemlich groß und hatte sehr breite Schultern.
    „Yoshi Shutoku“, stellte er sich vor und verbeugte sich dabei.
    „Mein Vater hat ihn schon um sechs Uhr aus dem Bett geholt“, sagte Hiroshi. „Von Beruf ist er Maskenbildner im Kokusai-Theater.“
    Der bullige Herr Shutoku hatte inzwischen einen kleinen Koffer geöffnet und ein ganzes Sortiment von Perücken über den Tisch verteilt. Peter Schimmelpfennig mußte sich auf den Boden setzen, und zehn Minuten später hatte er genauso schwarze und glänzende Haare wie alle japanischen Jungen, nur mit dem Unterschied, daß er seine Haare abnehmen konnte wie eine Melone oder einen Zylinder.
    „Ausgezeichnet!“ lobte Herr Uchida. „Jetzt noch die Brille.“
    Der Judokämpfer Yoshi hatte auch eine stattliche Auswahl verschiedenster Brillen in seinem kleinen schwarzen Koffer.
    „Sie sind für die Schauspieler im Theater und haben alle nur ganz einfaches Fensterglas“, bemerkte Herr Shutoku.
    „Jetzt würde ich ihn nicht wiedererkennen“, rief Frau Uchida und schlug vergnügt die Hände zusammen.
    Peter Schimmelpfennig hatte sich eine Hornbrille ausgesucht, die beinahe so schwarz und so dick war wie die von Herrn Nagase, dem Ersten Sekretär im Warenhaus DAIMARU.
    Jetzt tranken alle zusammen Tee. Der Zucker hatte die Form von Blüten und war farbig. Bevor er sich auflöste, sah es so aus, als würden Seerosen in den Tassen herumschwimmen.
    Als sich Peter Schimmelpfennig an der Türschwelle schließlich seine Schuhe anzog, verneigte man sich wieder eine ganze Weile und lächelte dabei. Und dann brachte Herr Uchida die beiden Jungen in seinem alten Peugeot zur Ginza. Anschließend fuhr er zur Schule, um seinen Jungen zu entschuldigen, und dann zu seiner Versicherung.
    „In erster Linie müssen wir jetzt telefonieren“, stellte Peter Schimmelpfennig fest, als Herr Uchida im Verkehr verschwunden war. „Hier ist die Nummer, und du mußt einen Mister Chandler verlangen.“
    Es gab in Tokio keine Telefonzellen. Aber an den Zeitungskiosken und an allen offenen Geschäften standen

Weitere Kostenlose Bücher