Der blinde Passagier
Triebwerke zu hören. Die Nacht war klar und wolkenlos.
„Saiteninstrument“, überlegte Herr Otto Mayer halblaut vor sich hin.
„Geige“, schlug Peter Schimmelpfennig vor.
„Der erste Buchstabe müßte ein H sein“, stellte Herr Otto Mayer fest.
„Harfe“, sagte Peter Schimmelpfennig nach einer Weile.
„Ausgezeichnet“, bemerkte Herr Mayer und malte die Buchstaben in sein Heft. „Aber jetzt wird es schwieriger: Griechischer Philosoph und Naturforscher. Wenn ,Harfe’ stimmt, müßte der erste Buchstabe ein A sein.“
Peter Schimmelpfennig schlief nach einiger Zeit dann doch ein, und er wachte erst wieder auf, als die Maschine gerade über Hongkong zur Landung ansetzte. Herr Mayer beugte sich vor, und beide blickten jetzt zu den vielen Lichtern hinunter.
„Hongkong bedeutet wohlriechender Hafen 1 , und so heißt eigentlich nur die Insel“, bemerkte Herr Mayer. „Der andere Stadtteil auf dem Festland heißt Kowloon.“
Die Maschine überflog jetzt gerade das Meer zwischen den beiden Städten. An den Ufern schwammen Tausende von kleineren und größeren Booten. Weiter draußen lagen weiße Passagierdampfer im Wasser und Kriegsschiffe, die von Scheinwerfern angestrahlt wurden.
Die Luft war feucht und warm, als die Passagiere aus der Maschine kletterten. Chinesische Polizisten in dunkelblauen englischen Uniformen standen an der Gangway und trennten die Fluggäste, die nur zur Zwischenlandung angekommen waren, von den anderen, die in Hongkong bleiben wollten.
Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Trotzdem war die Halle im Flugplatzgebäude voller Menschen. Amerikanische Reisegesellschaften warteten auf ihren Abflug nach Honolulu, und beinahe gleichzeitig wurden zwei Maschinen nach Tokio aufgerufen.
Vor dem Fenster sah man einen riesigen chinesischen Torbogen. Er war rot angestrichen und sollte jedem Besucher Glück bringen. Omnibusse und Taxis warteten in einer langen Reihe oder kamen gerade angefahren. Dazwischen standen die zweirädrigen Rikschas mit ihren barfüßigen Läufern.
Herr Mayer saß in einer Ecke des Transitraumes in einem Sessel. Peter Schimmelpfennig hockte neben ihm vor seinem Pagageienkäfig und fütterte Neco mit Erdnüssen.
„Teil des Kraftwagenmotors?“ fragte Herr Mayer gerade.
„Teil des Kraftwagenmotors“, wiederholte Peter Schimmelpfennig. „Wie wäre es mit ,Zündkerze’ ?“
„Sie sprechen Deutsch, wie ich höre“, sagte in diesem Augenblick eine dicke Dame. Sie trug einen himmelblauen Strohhut und dazu ein Kleid mit einem Vergißmeinnicht-Muster. „Wir kommen aus Düsseldorf und fliegen nach Ceylon. Soll ja dort ganz hübsch sein.“ Sie holte ein Tüchlein aus ihrer Handtasche und fummelte damit an ihrer Nase herum. „Nun sehe ich da gerade den Jungen neben dem
Papageien sitzen und sage zu meinem Mann, der drüben an der Bar gerade sein Bier trinkt: ,Das ist doch dieser blinde Passagier, von dem alle Zeitungen schreiben.’ “ Die Dame mit dem himmelblauen Strohhut war jetzt ganz aufgeregt. „Ist er es nun, oder ist er es nicht? Ich habe nämlich mit meinem Mann gewettet.“
„Da haben Sie Ihre Wette leider verloren, gnädige Frau“, sagte Herr Mayer in aller Seelenruhe, „und dann möchte ich mir ausbitten: Mein Sohn ist kein blinder Passagier, wenn Sie erlauben.“ Dabei blitzte er die Dame an, als hätte sie seinem Jungen vorgeworfen, ein Taschendieb zu sein.
„Entschuldigung“, hauchte die Dame mit dem Vergißmeinnichtkleid und wollte gehen.
„Übrigens“, bemerkte Herr Mayer noch und blätterte dabei bereits wieder in seinem Kreuzworträtselheft, „in Ceylon wimmelt es nur so von Giftschlangen. Aber wenn rechtzeitig amputiert wird, hat man durchaus die Chance, am Leben zu bleiben.“
Der Flug nach Bangkok dauerte knappe drei Stunden.
Der Himmel war jetzt schon ganz hell, und der Mond halte sich aufgelöst. Die Tragflächen des Flugzeugs waren feucht wie vom Tau. Milder Sonnenglast lag über Stadt und Flugplatz.
Herr Mayer drehte die Zeiger an seiner Taschenuhr um zwei Stunden weiter. „Dann hätten wir genau fünf Minuten nach sechs.“ Er steckte seine Uhr wieder in die Tasche. „Das ist eine fabelhafte Zeit. Jetzt klettert Bangkok nämlich gerade aus dem Bett, und das wollen wir uns ansehen.“
Sie ließen alles, was sie nicht brauchten, bei einem alten, weißhaarigen Thailänder am Flugplatz in der Gepäckaufbewahrung, auch den Käfig mit dem Papagei. Der alte Mann sagte einige Worte, faltete die Hände vor der Brust und verneigte
Weitere Kostenlose Bücher