Der Blinde Uhrmacher - Ein neues Plädoyer für den Darwinismus
Gedanken nahezulegen, daß Geparde und Gazellen von Generation zu Generation immer schneller geworden sein müssen, bis sie beide schneller liefen als der Schall. Das ist natürlich niemals geschehen und wird auch nie geschehen. Bevor ich das Wettrüsten weiter erörtere, ist es meine Pflicht, Mißverständnissen vorzubeugen.
Die erste Einschränkung ist folgende: Ich habe den Eindruck erweckt, daß die Beute-Fang-Fähigkeit von Geparden und die Räuber-Ausweich-Fähigkeit von Gazellen stetig zunimmt. Der Leser mag davon zu einer viktorianischen Vorstellung von der Unaufhaltsamkeit des Fortschritts verleitet worden sein, der zufolge jede Generation besser, hervorragender und tapferer als ihre Eltern ist. Die Realität in der Natur ist keineswegs so. Der Zeitraum, in dessen Verlauf eine signifikante Verbesserung zu bemerken wäre, ist in jedem Fall wahrscheinlich bei weitem zu groß, als daß der Vergleich einer typischen Generation mit ihrer Vorgängerin davon etwas erfassen könnte. Die »Verbesserung« ist außerdem alles andere als kontinuierlich. Es ist eine launische Angelegenheit, die stagniert oder manchmal sogar »rückläufig« ist, statt sich unbeirrt »vorwärts« in die Richtung zu bewegen, wie sie von dem Gedanken des Wettrüstens nahegelegt wird. Veränderungen in Bedingungen, Veränderungen in den unbelebten Kräften, die ich alle unter der allgemeinen Überschrift »Wetter« in einem Topf zusammengeworfen habe, werden wahrscheinlich die langsamen und erratischen Trends des Wettrüstens überdecken, soweit ein Beobachter vor Ort sie bemerken könnte. Es mag sehr wohl lange Zeitabschnitte geben, in denen kein »Fortschritt« im Wettrüsten und vielleicht überhaupt kein evolutiver Wandel stattfinden. Wettrüsten endet gelegentlich mit dem Aussterben, und dann ist es möglich, daß ein neues Wettrüsten bei
Null beginnt. Nichtsdestoweniger bleibt, nach all dem, die Idee des Wettrüstens immer noch die bei weitem befriedigendste Erklärung für die Existenz der hochentwickelten und komplexen Maschinerie, wie Tiere und Pflanzen sie besitzen. Es gibt progressive »Verbesserung« in der Art, wie die Metapher des Wettrüstens sie suggeriert, auch wenn sie sprunghaft und mit Unterbrechungen vor sich geht; sogar wenn die Nettorate des Fortschritts so klein ist, daß sie in der Lebenszeit eines Menschen oder sogar in der Zeitspanne der geschriebenen Geschichte nicht entdeckt werden kann.
Die zweite Einschränkung betrifft die Beziehung, die ich »Feind« nenne: Sie ist komplizierter als die einfache bilaterale Beziehung, die wir uns nach den Geschichten der Geparde und Gazellen vorstellen. Eine Komplikation besteht darin, daß eine gegebene Art zwei (oder mehr) Feinde haben kann, die sich möglicherweise untereinander sogar noch heftiger befehden. Das ist das Prinzip hinter der häufig vorgebrachten Halbwahrheit, das Gras habe einen Vorteil davon, abgegrast (oder gemäht) zu werden. Kühe fressen Gras und können daher als Feinde des Grases angesehen werden. Aber Gräser haben auch noch andere Feinde, etwa in der Pflanzenwelt konkurrierende Unkräuter, die sich, wenn sie ungestört wachsen dürften, eventuell als sogar noch schlimmere Feinde des Grases erweisen würden als Rindvieh. Gräser leiden in gewisser Weise darunter, von Kühen gefressen zu werden, aber die konkurrierenden Unkräuter leiden noch mehr. Der Nettoeffekt von Kühen auf einer Weide ist daher für das Gras von Vorteil. Die Kühe erweisen sich in diesem Sinne eher als Freunde des Grases denn als Feinde.
Nichtsdestoweniger sind Kühe Feinde des Grases, weil es immer noch zutrifft, daß es einer einzelnen Graspflanze besserginge, wenn sie überhaupt nicht von einer Kuh gefressen würde, und jede mutante Pflanze, die, nehmen wir einmal an, eine chemische Waffe zur Verteidigung gegen Kühe besäße, würde mehr Samen verbreiten (der die genetischen Anweisungen zur Herstellung der chemischen Waffe enthielte) als rivalisierende Angehörige ihrer eigenen Spezies, die für Kühe schmackhafter wären. Selbst wenn in einer speziellen Weise Kühe »Freunde« von Gräsern sind, ist es nicht so, daß die natürliche Auslese individuelle Graspflanzen fördert, die eine besondere Anstrengung machen, von Kühen gefressen zu werden! Die allgemeine Schlußfolgerung aus diesem Absatz lautet folgendermaßen: Es mag bequem sein, sich ein Wettrüsten zwischen zwei Abstammungslinien wie Kühen und Gras, oder Gazellen und Geparden, vorzustellen, aber wir sollten
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