Der blonde Vampir
erwiderte er. »Tut mir leid.«
»Wirke ich so gefährlich?«
Er schüttelt den Kopf. »Du wirkst anders als alle anderen Menschen, die ich bisher kennengelernt habe.«
Zuerst bemerkt Ray, daß ich einen Akzent habe, und jetzt schafft es Seymour, meine Gedanken zu lesen. Ein interessanter Tag, um es einfach zu sagen. Vielleicht sollte ich mich für den Rest der Zeit hier etwas unauffälliger verhalten.
Aber irgendwie kann ich nicht glauben, daß er wirklich meine Gedanken gelesen hat. Wenn ich es täte, würde ich ihn noch vor Sonnenuntergang töten, ob ich ihn nun mag oder nicht.
»Meine Schönheit verwirrt dich«, erkläre ich grinsend.
Er lacht und nickt. »Nicht oft läßt sich eine Schönheit wie du dazu herab, sich mit einem Reaktionär wie mir zu unterhalten.«
Ich pieke ihn mit der Pfeilspitze leicht in den Bauch. »Erzähl mir von den Geschichten, die du so gerne liest.« Ich spanne erneut und ziele. Mr. Castro soll diesen Tag noch erleben, sage ich mir, wenn auch vielleicht nicht viele weitere. »Besonders von deinen Lieblingshorrorgeschichten.«
Für den Rest der Stunde erzählt Seymour mir über die Autoren und Romane, die er gelesen hat. Es freut mich zu hören, daß Dracula nach wie vor seine Lieblingsgeschichte ist. Absichtlich verfehle ich beim Bogenschießen einige Male das Ziel, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Seymour damit wirklich täuschen kann. Er wendet den Blick keine Sekunde von mir ab.
Mein nächster Kurs ist Biologie. Ray sitzt hinten im Raum an einem Labortisch. Ich verliere keine Zeit, gehe schnurstracks nach hinten und lasse mich neben ihm nieder. Er runzelt die Stirn, wie um anzudeuten, daß hier normalerweise jemand anders sitzt, aber plötzlich scheint er seine Meinung zu ändern.
»Hat dir Bogenschießen Spaß gemacht?« fragt er.
»Hast du mit Pat geredet?« antworte ich mit einer Gegenfrage.
»Ja.«
Ich hatte von Anfang an recht: Seine Freundin steht zwischen uns. Wieder denke ich an die Informationen in Mr. Rileys Computer. Wenn die Polizei sie entdeckt und herausfindet, daß Mr. Riley mich zu erpressen versucht hat, wird sie mir bestimmt einen Besuch abstatten. Wenn es mir nicht bald gelingt, mir Zugang zu den Daten zu verschaffen, wird mir nichts anderes übrigbleiben, als sie zu vernichten. Ich beschließe, die ganze Sache zu beschleunigen, obwohl ich weiß, daß ich damit auch ein Risiko eingehe. Ich will noch heute abend wissen, was Riley über meinen Fall gespeichert hat. Also lehne ich mich vor und berühre Rays Arm.
»Kannst du mir einen großen Gefallen tun?« frage ich.
Er schaut auf meine Fingerspitzen, die noch immer auf seinem nackten Arm liegen. Meine Hände sind warm, und ich sorge dafür, daß ihm unter meiner Berührung heiß wird. »Sicher«, erklärt er.
»Meine Eltern sind für ein paar Tage nicht da, und ich brauche jemanden, der mir hilft, einige Sachen ins Haus zu tragen. Im Moment stehen sie noch in der Garage. – Ich könnte dich für deine Arbeit bezahlen«, füge ich hinzu.
»Du brauchst mir nichts zu zahlen. Ich helfe dir gern am Wochenende.«
»Es muß schon heute sein. Bei den Sachen handelt es sich nämlich unter anderem um mein Bett. Letzte Nacht mußte ich auf dem Fußboden schlafen.«
»Ärgerlich.« Ray atmet tief ein und denkt nach. Meine Hand liegt noch immer auf seinem Arm, und ich hoffe, daß die Berührung seine Gedanken beeinflußt. »Heute nach der Schule muß ich noch arbeiten.«
»Bis wann?«
»Bis neun. Aber dann wollte ich mich mit Pat treffen.«
»Sie ist ein liebenswertes Mädchen.« Ich sehe ihm in die Augen. Mein Blick sagt ihm, daß es noch etwas Aufregenderes gibt als liebeswerte Mädchen. Zumindest versuche ich es ihm zu sagen. Aber während ich so in Rays Augen sehe, erkenne ich, daß er einer der wenigen Menschen ist, die ich lieben könnte. Das ist eine erstaunliche Entdeckung für mich – und nicht die erste heute. Scheint ganz so, als ob dieser Tag noch ein paar Überraschungen für mich bereithält. Für Jahrhunderte habe ich weder Mann noch Frau geliebt. Und nie hat mir jemand soviel bedeutet wie Rama, der mein Ehemann war, bevor ich zur Vampirin wurde.
Tatsächlich muß ich an Rama denken, während ich Ray angucke, und jetzt weiß ich endlich, warum Ray mir so vertraut ist. Er hat Ramas Augen.
Ray blinzelt. »Wir gehen seit einem Jahr miteinander.«
Ich seufze leise. Sogar nach fünfzig Jahrhunderten vermisse ich Rama immer noch. »Ein Jahr geht schnell vorbei«, sage ich sanft.
Aber nicht fünftausend – die
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