Der blonde Vampir
langen Jahre sind wie Gespenster, die mich auf Schritt und Tritt begleiten, leise zwar und ein bißchen müde, aber immer noch wachsam. Die Zeit schärft die Sinne und zerstört die spielerische Leichtigkeit. Ich überlege, wie schön es wäre, mit Ray in der Dunkelheit einen Spaziergang durch den Park zu machen, wie es andere junge Leute tun. Ich könnte ihn küssen, könnte ihn beißen – sanft und zärtlich natürlich. Ich seufze traurig. Dieser arme Junge ahnt nicht, daß er neben der Mörderin seines Vaters sitzt.
»Vielleicht kann ich dir trotzdem helfen«, erklärt Ray. »Aber ich muß die Sache mit Pat abklären.«
Endlich ziehe ich meine Hand zurück. »Wenn du die Sache mit Pat abklärst, wird sie sagen, daß du mir ruhig helfen sollst – solange sie dabeisein kann.« Ich zucke mit den Schultern. »Jedes Mädchen würde so reagieren.«
»Hast du denn etwas dagegen, wenn sie mitkommt?«
»Nein.«
Meine Antwort verblüfft ihn. Aber er ist zu clever, um zu fragen, warum das so ist. Statt dessen nickt er nur. »Ich werde mit ihr reden. Vielleicht könnte ich ein bißchen später zu dir kommen, was meinst du? Um wieviel Uhr gehst du normalerweise ins Bett?«
»Spät.«
Das Thema der Biologiestunde ist Photosynthese. Wie Sonnenenergie durch Chlorophyll in chemische Energie verwandelt wird und welche Bedeutung der grüne Farbstoff für die gesamte Nahrungskette hat. Der Lehrer macht eine Bemerkung, die ich interessant finde – er vergleicht Chlorophyll mit den roten Blutkörperchen. Die beiden Stoffe sind fast identisch; nur ist im Chlorophyll das Eisenatom durch ein Magnesiumatom ersetzt. Ich sehe zu Ray hinüber und sage mir, daß uns beide in der Evolutionskette nur ein Atom voneinander trennt.
Natürlich weiß ich, daß die Evolution nie einen Vampir zustande gebracht hätte. Wir sind durch einen Unfall entstanden, einen folgenschweren Fehler. Mir fällt ein, daß ich Ray wahrscheinlich töten muß, nachdem er mir Zugang zu den Unterlagen seines Vaters verschafft hat. Ich sehe ihn an, und er lächelt. Er mag mich, obwohl er mich erst seit kurzem kennt. Aber ich lächle nicht zurück. Meine dunklen Gedanken erlauben es nicht.
Die Stunde ist vorüber. Ich gebe Ray meine Adresse, nicht jedoch meine Telefonnummer. Schließlich soll er keine Möglichkeit haben, doch noch abzusagen. Die Adresse gehört zu einem neuen Haus, das erst am Morgen für mich gemietet wurde. Mr. Riley wird meine alte Adresse im Computer gespeichert haben, und ich möchte nicht, daß Ray zu früh herausfindet, wer ich wirklich bin. Ray verspricht mir also, so früh wie möglich zu kommen. Er hat nicht vor, mich zu verführen, das erkenne ich, aber irgendein anderer Gedanke beschäftigt ihn sehr. Natürlich werde ich mit ihm schlafen, wenn er will. Ich werde ihm mehr geben, als er erwartet.
Ich gehe nach Hause – zu meinem neuen Heim. Es ist ein einfaches, möbliertes Haus in einem Vorort. Rasch, aber ohne ins Schwitzen zu geraten, stelle ich einen guten Teil der Möbel in die Garage. Dann gehe ich ins Schlafzimmer, ziehe die Vorhänge vor, lasse mich auf dem harten Holzboden nieder und schließe die Augen. Die Sonne hat mir meine Kräfte genommen – das rede ich mir zumindest ein. Aber als ich langsam eindöse, begreife ich, daß mich auch die Begegnung mit den Menschen, die ich heute kennengelernt habe, tief beeindruckt hat – bis ins Blut, das wie ein schwarzer Fluß über den kalten Staub vergangener Zeiten hinweg fließt, in die Gegenwart strömt, in ein neues, frisches Leben, unvermeidlich, gefährlich, verhängnisvoll. Während ich einschlafe, hoffe ich, daß ich von Krishna träumen werde, aber meine Hoffnung erfüllt sich nicht. Statt dessen sehe ich den Teufel.
Yaksha, den ersten aller Vampire.
Den ersten der Gattung, deren letzte Überlebende ich bin.
3.
KAPITEL
Wir waren die wirklichen Arier – blond und blauäugig. Wir drangen vor dem Beginn der Zeitrechnung in Indien ein, wie ein Schwarm Hornissen auf der Suche nach wärmeren Gefilden. Wir trugen scharfe Schwerter und vergossen viel Blut. Im Jahre 3000 vor Christus, als ich geboren wurde, waren wir noch immer am selben Ort. Doch wir waren keine Feinde mehr, sondern ein Teil der Kultur, die alles Fremde in sich aufnimmt und es mit dem Althergebrachten vereint. Ich kam in einem kleinen Wüstendorf in Rajastan zur Welt, und man nannte mich Sita. Es fing alles erst an damals, und ich wuchs zusammen mit einer Freundin auf, welche die Mutter aller Vampire werden sollte. Ihr
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