Der blonde Vampir
Erinnerung an ihn bewirkt diese Veränderung. Wenn ich ihm nie begegnet wäre, würde ich jetzt nicht zögern.
»Mir liegt etwas an dir, Ray.« Ich wende mich ab. »Wir sollten uns jetzt wieder anziehen. Ich will über ein paar Dinge mit dir reden.«
Ray wirkt fast erschrocken über meinen plötzlichen Sinneswandel. Erschrocken und enttäuscht.
Aber ich spüre, daß er gleichzeitig erleichtert ist.
Später sitzen wir im Wohnzimmer auf dem Boden vor dem Kamin und leeren die angebrochene Flasche Wein. Alkohol zeigt bei mir keine Wirkung; ich schaffe es jederzeit, ein Dutzend Trucker unter den Tisch zu trinken. Wir sprechen über dies und jenes, und ich erfahre mehr über Rays Leben. Er hat vor, nächsten Herbst nach Standford zu gehen und dort Physik und Kunst zu studieren – eine merkwürdige Kombination, das gesteht er selbst. Allerdings fragt er sich, ob sein Vater es schaffen wird, die hohen Schulkosten zu tragen. Seine Sorge ist nicht unbegründet, da kann ich im stillen nur zustimmen. Ray ist ein Fan moderner Quantenmechanik und abstrakter Kunst. Nach der Schule arbeitet er in einem Supermarkt. Er erzählt mir nichts über Pat, und auch ich erwähne sie nicht. Aber ich bringe die Unterhaltung wieder auf seinen Vater.
»Es ist schon spät«, sage ich. »Bist du sicher, daß du deinen Vater nicht anrufen willst, um ihm mitzuteilen, daß du gerade mit einer atemberaubenden Blondine aus dem Whirlpool gestiegen bist?«
»Um ehrlich zu sein: Ich glaube nicht, daß mein Vater zu Hause ist.«
»Hat er eine Freundin?«
»Nein, er hat die Stadt für ein paar Tage verlassen, um neue Informationen für einen Fall zu sammeln.«
»Was für einen Fall?«
»Ich weiß nicht genau, um was es geht; er hat es mir nicht gesagt. Nur daß es eine große Sache ist und er sich eine Menge Geld davon verspricht. Er ist schon eine ganze Weile an der Sache dran.« Ray grinst. »Langsam beginne ich fast, mir Sorgen um ihn zu machen. Er verschwindet öfter mal für einen Tag, aber er war noch nie so lange weg, ohne mich zumindest anzurufen.«
»Habt ihr einen Anrufbeantworter?«
»Ja.«
»Und er hat noch nicht mal eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein.«
»Wie lange hast du nichts mehr von ihm gehört?«
»Drei Tage. Ich weiß, daß das nicht lange ist, aber sonst ruft er mich jeden Tag an.«
Ich nicke verständnisvoll. »Ich an deiner Stelle würde mir auch Sorgen machen. Hat er ein Büro in der Stadt?«
»Ja. Auf dem Tudor Boulevard, gar nicht weit vom Meer entfernt.«
»Hast du da schon nachgesehen?«
»Ich habe seine Sekretärin angerufen, aber sie hat auch nichts von ihm gehört.«
»Das ist allerdings merkwürdig, Ray. Du solltest die Polizei anrufen und eine Vermißtenanzeige aufgeben.«
Ray zuckt mit den Schultern. »Du kennst meinen Dad nicht. So etwas dürfte ich niemals tun, wenn ich ihn nicht fuchsteufelswild machen will. Nein, ich bin sicher, daß ihn sein Fall so sehr in Anspruch nimmt. Wenn er die Gelegenheit dazu findet, wird er mich anrufen.« Er schluckt. »Hoffe ich zumindest.«
»Ich habe eine Idee«, erkläre ich, denn eben ist mir etwas eingefallen. »Warum fährst du nicht in sein Büro und siehst in seinen Unterlagen nach, an was für einer Sache er arbeitet? Dann könntest du wahrscheinlich herausfinden, wo er sich aufhält.«
»Er würde es nicht gut finden, wenn ich in seinen Unterlagen schnüffle.«
Ich zucke mit den Schultern. »Es ist deine Entscheidung. Aber wenn es um meinen Vater ginge, würde ich wissen wollen, wo er ist.«
»Er hat alle Informationen im Computer gespeichert. Ich müßte in sein System einsteigen, und es würde einen Vermerk darüber geben, an dem er später erkennen kann, was ich getan habe. Er hat es extra so eingestellt.«
»Kannst du denn überhaupt an seine Unterlagen heran? Ich meine, weißt du das Kennwort?«
Er wirkt erstaunt. »Woher weißt du, daß man ein Kennwort braucht?«
An seiner Stimme erkenne ich, daß er Verdacht geschöpft hat, und einmal mehr bin ich erstaunt über seine Sensibilität. Aber ich erlaube mir nicht lange, mich zu wundern, denn zu sehr habe ich seit zwei Tagen auf diesen Moment gewartet.
»Ich wußte es gar nicht«, erkläre ich. »Aber schließlich ist es üblich, seine Unterlagen auf diese Weise zu sichern.«
Er wirkt beruhigt. »Ja, ich kann an seine Akten heran. Das Kennwort ist ein Spitzname, den er mir gegeben hat, als ich noch klein war.«
Ich brauche ihn nicht zu fragen, was für ein Name es ist. Außerdem würde ihn eine solche Frage nur noch
Weitere Kostenlose Bücher