Der blonde Vampir
Ich frage ihn, wie es Pat geht. Warum soll ich seine Verwirrung nicht noch ein bißchen steigern?
»Gut«, sagt er.
»Hast du ihr gesagt, daß du mich besuchst?«
Er senkt den Kopf. Er verspürt ein leichtes Schuldgefühl, nicht mehr. »Ich habe ihr gesagt, daß ich müde bin und ins Bett gehe.«
»Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Zuerst mußt du allerdings die Betten hereintragen.«
Meine Direktheit verblüfft ihn. »Mein Vater würde sich fragen, wo ich bin.«
»Hier gibt’s ein Telefon. Du kannst ihn anrufen. Was macht dein Vater?« wechsle ich das Thema.
»Er ist Privatdetektiv.«
»Hört sich aufregend an. Also, was ist: Willst du ihn anrufen?«
Ray sieht mir in die Augen. Ich halte seinem Blick stand. Er weicht mir nicht aus, wie sein Vater es getan hat. Er ist stärker als sein alter Herr.
»Laß uns erst mal anfangen und sehen, wie spät es wird«, schlägt er vor.
Er beginnt zu arbeiten. Bald keucht und schnauft er vor Anstrengung. Ich helfe ihm, aber nur ein wenig. Trotzdem stellt er erstaunt fest, wie stark ich bin. Ich erzähle ihm, wie ich Seymour kennengelernt habe, und er hört interessiert zu. Offenbar ist auch er mit Seymour befreundet.
»Er ist wahrscheinlich der cleverste Bursche in der ganzen Schule«, erklärt Ray, während er ein paar Eßzimmerstühle hereinschleppt. »Er ist erst sechzehn, und er wird im Juni seinen Abschluß machen.«
»Er hat mir erzählt, daß er gerne schreibt.«
»Er schreibt großartig. Er hat Pat erlaubt, einige seiner Kurzgeschichten zu lesen, und sie hat sie mir gezeigt. Ziemlich düstere Atmosphäre, aber großartig. Eine handelt davon, was sich zwischen einzelnen Zeitpunkten im Weltall abspielt. Sie heißt ›Die zweite Hand‹. Er beschreibt einen Burschen, der plötzlich beginnt, zwischen den Momenten zu leben, und der dann feststellt, daß hier mehr passiert als in der normalen Zeit.«
»Hört sich interessant an. Und was macht die Geschichte so düster?«
»Für den Burschen war die letzte Stunde seines Lebens angebrochen. Aber sie hat ein ganzes Jahr gedauert.«
»Wußte der Junge, daß es seine letzte Stunde war?«
Ray zögert. Ihm muß aufgefallen sein, daß es Seymour nicht gutgeht. »Ich weiß nicht, Lara.«
Er hat zum erstenmal meinen Namen gesagt. »Nenn mich Sita«, bitte ich und bin über mich selbst erstaunt.
Er runzelt die Stirn. »Ist das dein Spitzname?«
»So was Ähnliches. Mein Vater hat mich immer so genannt.«
Ray merkt, daß sich mein Tonfall geändert hat. Ich klinge jetzt traurig. Oder vielleicht auch sehnsüchtig. Niemand, der mir etwas bedeutete, hat in den letzten Tausenden von Jahren meinen wirklichen Namen gesagt. Ich stelle mir vor, wie schön es sein wird, ihn jetzt aus Rays Mund zu hören.
»Wie lange wird deine Familie noch in Colorado bleiben?« will Ray wissen.
»Ich habe gelogen. Mein Vater ist gar nicht dort. Er ist tot.«
»Das tut mir leid.«
»Ich habe an ihn gedacht, bevor du kamst.« Ich seufze. »Er ist vor langer Zeit gestorben.«
»Wie ist er gestorben?«
»Er wurde ermordet.«
Ray wirkt entsetzt. »Das muß schrecklich für dich gewesen sein. Ich wäre verzweifelt, wenn meinem Vater jemals etwas passieren sollte. Meine Mutter hat uns verlassen, als ich gerade fünf war.«
Ich schlucke den Kloß hinunter, der mir im Hals sitzt. An der Stärke meiner Reaktion erkenne ich, wie nahe ich dem Jungen schon bin. Und alles nur, weil er Ramas Augen hat? Nein, es muß noch andere Gründe dafür geben. Er hat auch Ramas Stimme. Sicher einen anderen Akzent als er – ein normaler Sterblicher würde bestimmt sagen, daß sie ganz unterschiedlich klingen, wenn er sie beide hören könnte –, aber für mich, einen Vampir mit besonders guten Ohren, klingen die Stimmen in ihren Feinheiten fast identisch. Diese Stille zwischen den einzelnen Silben. Es war Ramas ganz besondere Stille, die mich anfangs so angezogen hat.
»Ihr müßt sehr aneinander hängen.« Das ist alles, was ich sagen kann. Aber ich weiß, daß ich bald wieder auf Rays Vater zurückkommen werde. Schließlich muß ich noch in dieser Nacht in sein Büro! Ich hoffe nur, daß ich das Blut wirklich bis auf den letzten Tropfen weggewischt habe. Ich habe keine Lust, dabeizusein, wenn Ray erfährt, was passiert ist.
Falls er es jemals erfahren sollte.
Ich lasse ihn die restlichen Möbel hereinbringen. Er braucht Stunden dafür, während ich es in zwanzig Minuten geschafft habe, sie in die Garage zu tragen. Ich biete ihm noch ein Glas Wein an – ein großes –, und er
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