Der Blumenkrieg
Rücken gelaufen, und dabei hat sie dich nicht einmal verstanden. Halt jetzt den Mund!« Sie flog kurz davon und kam umgehend zurück. »Die drei Kerle schnüffeln immer noch hinten bei der Teestube rum. Geh los und beweg dich auf Gleis 12 zu. Sieh zu, daß du dich anderen Leuten anschließt, die in die Richtung gehen. Und was du auch tust, schau dich nicht um!«
Rufinus’ Leichnam hatte vorzufallen begonnen und stierte jetzt mit glasigen Augen auf den Boden, als hätte er etwas verloren und suchte danach. Eine kleine Elfe mit einem Räderkorb voller Päckchen hatte auf dem anderen Ende der Bank Platz genommen. Bis jetzt war ihr der Zustand ihres Banknachbarn noch nicht aufgefallen, aber wie lange konnte das dauern?
»Na schön, gehen wir halt«, sagte Theo. »Ich kann meinen Herzanfall genausogut im Gehen wie im Stehen haben.«
Die Massen ungewohnter Elfengesichter, die er anfangs faszinierend gefunden und in der letzten halben Stunde kaum mehr wahrgenommen hatte, trieben jetzt an ihm vorbei wie in einem Albtraum. Jeden Augenblick konnte jemand auf ihn deuten und rufen: »Betrüger!«
Am schwersten auszuhalten war der Verdacht, nein, die Gewißheit, daß Gestalten mit feuchten, kreideweißen Gesichtern sich hinter ihm heranstahlen, die Hand nach seinem Genick ausstreckten …
»Untersteh dich und schau dich um!« fauchte Apfelgriebs.
Unter eine Gruppe von Leuten seiner Größe gemischt, ging er den Bahnsteig von Gleis 12 hinunter auf die Wagen der Ersten Klasse zu, als ihn plötzlich eine Erkenntnis traf wie ein kalter Wasserguß.
»O Gott, Rainfarns Neffe hat noch die Fahrkarten!«
»Nein, hat er nicht. Ich hab sie ihm vor einer Stunde abgenommen und dir in die Jacke gesteckt, weil ich die Befürchtung hatte, der Dödel könnte sie verschludern.«
»Und ich habe nichts gemerkt?«
Sie schnaubte. »Ich hätte dir das Parlamentsgebäude in die Tasche stecken können, und du hättest nichts gemerkt. Du hast irgendwelchen Frauen nachgeschaut. So, hier steig ein!«
Er bestieg einen Wagen Dritter Klasse. Darin ging es fast buchstäblich zu wie im Zoo, denn Wesen aller Formen und Größen rangelten um die Sitzplätze. Apfelgriebs raunte ihm zu, sie sollten sich lieber nicht einkeilen lassen, und so gingen sie weiter zum hinteren Ende des Wagens und stellten sich neben die Tür zu einer Gruppe ebenfalls menschengroßer, aber offenbar gesellschaftlich niedrigstehender Elfen, die Theos Kleidung beäugten und sich umgehend wegdrehten. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
»Warum fährt dieser blöde Zug nicht ab?« flüsterte er Apfelgriebs zu. Er konnte die drei »Haie« draußen so deutlich spüren, als ob ihre Flossen schon sein leckes Boot umkreisten. Er wäre am liebsten vor zur Lokomotive gerannt und hätte den Lokführer am Genick gepackt und geschüttelt, bis er sich endlich dazu aufraffte, loszufahren.
Als ob der ferne Lokomotivführer die potentielle Bedrohung gefühlt hätte, stieß die Dampfpfeife einen lauten Kreischton aus.
»Gott sei Dank«, japste Theo. Im nächsten Moment hasteten zwei leichenblasse, schwarzgekleidete Gestalten an den Fenstern ihres Eisenbahnwaggons vorbei. Zuerst meinte er, die Hohlrücken würden an seiner Tür einsteigen und sein stotterndes Herz würde endgültig versagen, doch statt dessen drängelten sie sich durch die Menge auf dem Bahnsteig weiter in Richtung der Erste-Klasse-Wagen. Wenig später ruckte der Zug an und rollte langsam aus dem Bahnhof.
»Sind sie eingestiegen?« fragte Theo Apfelgriebs. »Oder sind wir ohne sie losgefahren?«
Sie zuckte die Achseln, aber sie wirkte weder fröhlich noch zuversichtlich.
E r segelte auf den Weltenwinden wie ein unsichtbarer Drachen, unheimlich weitgespannt und dabei aller Formlosigkeit zum Trotz mit jeder Faser lebendig und auf den Gegenstand gerichtet, den er suchte. Er war jetzt ganz nahe – selbst inmitten der vielen ähnlichen Wesen, die seine Beute umgaben, nahm der Irrha sein Ziel so mühelos wahr, wie vielleicht eine Eule ein kurzes Zucken warmen Lebens im dichten Unterholz eines Waldes erspähte.
Dem Ziel von einer Ebene zur anderen zu folgen war diesmal schwieriger gewesen, als der Irrha auf seine unreflektierte Art erwartet hatte, rauher und strapaziöser. Während der langsam dahinschleichenden Jahrtausende, in denen er in den dunklen Zwischenräumen geschlafwandelt war, hatte sich viel verändert. Sofern ein rastloses Wesen müde sein konnte, war er es. Sofern ein gefühlloses Wesen enttäuscht
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