Der Blumenkrieg
hundertfünf bin?«
Er nickte. »Im Ernst.«
»Na gut.« Sie kuschelte sich wieder an ihn. »Vielleicht sollten wir so oder so nichts überstürzen. Ich will nicht, daß du einfach weggehst, wie die anderen es immer machen. Na ja, die anderen, die ich nicht wegschicke. Einige von denen werde ich nicht mal mit schwarzem Eisen los.« Ihre Augen blieben geschlossen, doch sie lächelte und legte sich die Finger auf den Mund; sie war immer noch ein wenig beschwipst. »Entschuldige. Alle sagen, daß ich eine ordinäre Ausdrucksweise habe.« Sie gähnte. »Ich denke, ich werde ein Weilchen schlafen. Es war so ein ereignisreicher Tag …«
Er nahm keinen Übergang wahr, doch wenig später merkte er an der Art, wie ihr Körper schwer an seinem lag, daß sie schlief. Die Musik spielte weiter, ein einziges langes Klanggemälde aus leisen Flötentönen und dem tiefen Bordun von Saiteninstrumenten, das in ihm die Assoziation von hohen Berggipfeln im heulenden Wind weckte, doch mit einem ungewöhnlichen Hintergrundrhythmus, der gelegentlich in den Vordergrund kam und dann wieder im Mix unterging. Theo achtete darauf, daß er sich nicht bewegte oder den Zauber durch sonst etwas brach. Ihm war, als ob er aus dem Tumult der letzten Tage in eine traumartige Blase seiner Vergangenheit getreten wäre, eine Zeitoase aus seiner Jugend – ein Mädchen, ein leises Auto, die an den Fenstern vorbeigleitende Landschaft. Aber dieses Mädchen ist ein Jahrhundert alt, und die Landschaft ist voll von Einhörnern und Monstern.
Die Musik klang ab. »Alles in Ordnung da hinten?« erkundigte sich der Fahrer.
»Ja, bestens«, antwortete Theo. Die Musik schwoll wieder an, geheimnisvoll pulsend, jetzt aber verzuckert vom schwachen Zirpen eines Saiteninstruments. Falls es im Himmel Grillen gab, dachte Theo, dann mußten sie sich ungefähr so anhören.
Musik bedeutete ihm wirklich etwas, erkannte er, und zwar von jeher. Sie sprach ihn an, obwohl er nicht mit Worten hätte sagen können, was sie verhieß. Sie war wie eine Geheimsprache, die er nie verlernt hatte, ein Heimatort, an den er immer zurückkehren konnte, wenn ihm das Leben zur Qual wurde. Von dem Tag an, als er zum erstenmal die Töne nachmachte, die aus dem Radio seiner Mutter kamen, bevor er überhaupt wußte, daß sich das »Singen« nannte, was er da machte, war die Musik eine Zuflucht gewesen, von der nur Theo etwas wußte und wo er immer willkommen war. Jetzt lauschte er ergriffen diesen neuen, fremdartigen Weisen, überwältigt von der Ahnung einer ganzen Welt voll Musik, wie er sie noch nie gehört oder sich auch nur vorgestellt hatte, verlockend wie ein Kuß, und während er lauschte, blickte er zum Himmel auf. Wie Poppi Stechapfel gesagt hatte, wurden die ohnehin schon irrwitzig hellen Sterne immer heller, je weiter das Auto in die ländliche Finsternis hinausfuhr. Gleichzeitig ließ ihr Glanz den Himmel nicht blau erscheinen, sondern tauchte ihn in ein noch tieferes Schwarz.
Der dunkle Himmel wurde dunkler. Die Sterne wurden heller. Die Musik umgab ihn, erhob ihn, ja, schien ihn Dinge über diese Welt zu lehren, die er vorher nicht verstanden hatte. Nach einer Zeit, für deren Länge er kein Gefühl hatte, machte Theo sich behutsam von Poppi Stechapfel los, indem er ihren Kopf von seiner Schulter nahm und auf seine zusammengefaltete Jacke legte. Er stemmte sich vom Sitz hoch und schob erst den Kopf und dann die Schultern durch die Öffnung über ihm, bis er sich mit den Ellbogen auf das Wagendach stützen konnte. Die Luft, die ihm ins Gesicht blies, war warm und ein klein wenig feucht, und er versank in Spekulationen darüber, ob Regenwolken hier wohl auf ähnlichen Bahnen zogen wie in der wirklichen Welt oder ob sie so verwirrende Verschiebungen vollzogen wie die wechselhaften Ortschaften Elfiens.
Doch so süß sie war, drang die fruchtbar riechende Luft kaum in sein Bewußtsein oder in seine Sinne: Jetzt, wo die Lichter der Ortschaft weit hinter ihnen lagen und nur die silbrigen Strahlen der Wagenscheinwerfer dünn über die Straße strichen, schienen die Sterne noch grandioser und dramatischer zu flammen, wie die reinsten Novas. Er konnte sowohl ihre riesige brennende Gashülle als auch ihre diamantene Härte sehen; es war, als ob sie gleichzeitig kosmische und magische Erscheinungen wären. Sie füllten den Himmel in allen Richtungen aus, und selbst die kleinsten leuchteten unglaublich klar, so daß er zum erstenmal im Leben die Welt unter ihm wahrhaft als etwas empfand,
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