Der Blumenkrieg
Gesicht und sein Anzug waren sehr schmutzig. Er sah aus wie einer, der den Weg zu den Kriegssteinen kennen könnte, dachte Stracki, doch der Querz enttäuschte ihn. »Du Wahnsinniger, woher soll ich das wissen?« Er wischte sich Schweiß und grauen Schnee von der Stirn und kicherte. »Drei der großen Residenzen, Lilie, Narzisse, Stockrose, alle in einer Stunde vernichtet! Jemand hat erklärt, daß das Parlament aufgelöst wurde. Es ist Krieg!« Er hörte auf zu lachen und brach in Tränen aus, genau wie Stracki es befürchtet hatte. Er schien eine sehr empfindsame Seele zu sein. »Ich kann dir nicht helfen. Ich kann dir nicht helfen. Es heißt, bis Sonnenuntergang soll niemand mehr auf der Straße sein. Dieser Stechapfel hat das gesagt, Fürst Stechapfel. Schien ganz ruhig zu sein …«
Der Name Stechapfel erschreckte Stracki, obwohl er sich im Augenblick nicht recht erinnern konnte, warum, aber noch etwas anderes, das der Mann gesagt hatte, verwirrte ihn. »Sonnenuntergang? Aber es ist doch schon Nacht.«
Der Querz schüttelte den Kopf, wischte sich mit dem Jackettärmel die Augen und verschmierte dabei den schmutzigen Schnee auf seinem Gesicht noch mehr, bis er aussah, als hätte er eine Maske auf. »Geh nach Hause! Geh zu deinen Kindern!« Er drehte sich um und tappte die Straße hinunter. Gleich darauf hatte ihn das grauweiße Gestöber verschluckt.
»Ich hab keine Kinder«, sagte Stracki, doch es war niemand mehr da, der ihn hören konnte.
Er ging immer weiter, stundenlang, wie ihm schien. Er vergaß, auf welcher Straße er bleiben sollte, und hörte auf, nach den Schildern zu schauen, hörte auf, sich dazu anzuhalten. Es war ohnehin schwer, etwas zu erkennen – seine Augen brannten wie Feuer und aus irgendeinem Grund auch seine Lungen, genau wie seinerzeit in den Tagen nach seinem Unfall. Er stolperte öfter und fiel hin, und jedesmal war es beschwerlicher, wieder aufzustehen. Doch seine Freunde warteten auf ihn. Er umklammerte seine Tasche fester. Seine Freunde warteten.
In einer dunklen Straße, wo der Schnee nicht so dicht war, einer kleinen, engen Straße, über die keine Feuerstrahlen hinweggingen, sondern Wäscheleinen, kroch er auf eine Veranda und fiel gegen eine Tür, die in der Mitte noch eine kleinere runde Tür hatte, ungefähr auf der Höhe seines Bauchs. Er wußte nicht mehr, wo er war, und er wußte nicht, wessen Wohnung oder Geschäft dies sein mochte, doch er erinnerte sich an diese Art von Tür – seine Freunde hatten ihm von solchen Türen mit einem Loch in der Mitte erzählt. Er schlug mit der flachen Hand dagegen, bis ihm einfiel, die Finger zur Faust zu ballen, und dann klopfte er weiter und überlegte dabei, welches Klopfzeichen ihm seine Freunde beigebracht hatten – dreimal schnell zweimal langsam, zweimal schnell, und das immerzu wiederholen …
Der Goblin, der schließlich die runde Einsatztür öffnete und hinauslugte, sagte kein Wort, aber er machte sie auch nicht wieder zu. Statt dessen betrachtete er Stracki mit großen, ängstlichen Augen. Stimmen drangen hinter ihm heraus, im Streit erhobene summende Goblinstimmen, wie auch die bekannten Töne der Spiegelsprecher, die Stracki früher jeden Abend begrüßt hatten, wenn er von den Feldern heimgekommen war, damals, bevor er wegging, um im Kraftwerk zu arbeiten. Seine Mutter hatte ihren Spiegel geliebt. »Meine Gesellschaft«, nannte sie ihn immer. »Meine Freunde.«
Freunde. »Hilf mir«, sagte Stracki, und plötzlich sah er das Gesicht des Goblins von unten statt von oben. Er war umgesunken, ohne es zu merken, und das Atmen fiel ihm schwer, als ob der Schnee ihm die Lungen verstopfte, heißer Schnee, der in ihm schwelte und die ganze gute Luft verdrängte. »Hilf mir … meine Freunde zu finden. Sie leben … unter … einer Brücke.«
25
Millionen Funken
E ine Weile rechnete er damit, Feuer zu fangen.
Ringsherum war überall Lärm, ferne Schreie und die körperlose Stimme eines Heinzels, der matt wie ein fieberkrankes Kind Gefahr und Zerstörung meldete, doch zunächst kam es Theo so vor, als ob eine tiefe, überwältigende Stille ihn umhüllte.
Ich werde sterben, war der einzige klare Gedanke und schien daher sein einziger Gedanke überhaupt zu sein: Ich werde sterben. Doch nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß die Stille eine Art Schocktaubheit war und daß die Welt um ihn herum ebenso von Getöse erfüllt war, wie in seinem Kopf unzusammenhängende Gedanken rasten, kreischten und zusammenprallten
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