Der Blumenkrieg
und in die Freiheit wies wie die gütige Hand eines Schutzengels. Auf dem Schild gegenüber stand Hauptturm, ebenfalls mit einem Pfeil darunter.
Er blieb stehen, ohne zunächst zu wissen, warum. Wo war Apfelgriebs gewesen, als … als das Entsetzliche geschehen war? Draußen, wenigstens wollte er das gern glauben. Sie mußte sich hinausbegeben haben, unbedingt, denn so lautete ja die Mitteilung, die sie ihm hinterlassen hatte, bevor er ins Tagungszentrum ging. Die Fee war zudem nicht dumm: Falls sie im Freien gewesen war, mußte sie das Ungeheuer durch die Luft kommen gesehen haben, diesen schrecklichen geflügelten Schatten, und dann hatte sie bestimmt schleunigst das Weite gesucht. Ganz sicher hatte sie das.
Doch als Theo ansetzte, die Richtung zum Foyer einzuschlagen, kam ihm auf einmal ein anderer Gedanke. Falls es wirklich Rainfarn war, den sie gesehen hat, ist sie ihm nicht ins Tagungszentrum gefolgt, wo ich war. Wenn sie nun statt dessen nach oben zum Gipfeltreffen gegangen ist?
Er blieb wie angewurzelt an der Kreuzung der Korridore stehen. Wenn sie dort hinaufgegangen ist, dann ist sie jetzt tot, und ich kann nichts mehr machen. Wenn sie draußen ist, kann es sein, daß sie überlebt hat, aber um das festzustellen, muß ich hinausgehen. Wo sonst könnte sie sein?
In der Wabe. Er wehrte sich gegen den Gedanken, aber die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Die Wabe im Keller des Hauptturms. Er hatte keine Ahnung, was mit dem Narzissenturm geschehen war, doch er konnte sich nicht vorstellen, daß Nieswurz und seine Verbündeten dieses stolze, hohe Symbol unbehelligt gelassen hatten. Wie, wenn sie nun in die Wabe zurückgegangen war? Wenn sie Hilfe brauchte?
Nein, völlig unsinnig, so etwas auch nur zu denken. Sollte er etwa in das nächste zerstörte Gebäude gehen, um nach einer zu suchen, die höchstwahrscheinlich gar nicht dort war und die so gut wie unauffindbar war, wenn doch? Doch obwohl ihm der Kopf schwirrte und alle Glieder vor Erschöpfung schmerzten, konnte Theo nicht vergessen, wie sie gegen den Untoten angeflogen war wie der tapferste Kolibri der Welt und nur mit einem Korkenzieher bewaffnet versucht hatte, sein elendes Leben zu retten. Und er konnte nicht vergessen, daß sie im Zug bis zum bitteren Ende bei ihm geblieben war, in seinem Hemd verborgen, auch als die Schutzleute und der gräßliche, schneckenartige Hohlrücken ihn suchten und fanden. Was war sie ihm schuldig gewesen? Nichts. Was war er ihr schuldig? Alles.
Nimm endlich den Korridor zum Foyer, du Idiot! mahnte ihn der vernünftige Teil seines Hirns. Sie ist wahrscheinlich draußen, und wenn nicht, kannst du auch nichts machen.
Flach. Das Wort sprang ihm entgegen wie der schwärzeste Fluch. Flach. Er sah sich selbst, die reine Oberfläche, leer wie eine Gipsfigur. Herzlos. Mutlos.
Lieber flach als tot.
Aber was habe ich außer ihr? Woran halte ich mich fest? Ich bin ja nicht mal ein Mensch, ich bin ein unerwünschter, abgeschobener Elf. Sie ist meine Freundin.
Er drehte sich wieder um und trat in den Gang mit dem Schild Hauptturm. Vielleicht war der Turm ja vor der schlimmsten Zerstörung verschont geblieben, sagte er sich, ohne es recht zu glauben. Das eigentliche Ziel von Nieswurz und den anderen Schweinehunden war das Tagungszentrum gewesen, nicht wahr? Wo alle ihre Feinde an einem Ort versammelt waren. Plötzlich brach die bestürzende Erinnerung an den Untergang des Sitzungssaals in flüssigem Glas und lodernden Flammen wieder über Theo herein, an das Schicksal, das Fürstin Ämilia Jonquille und Stockrose und sogar das am Feiertag arbeitende Tümmelding Walter erlitten haben mußten …
Weil der Korridor zwischen dem Tagungszentrum und dem Hauptturm weitgehend frei von Schutt war, befand sich niemand mehr in den davon abgehenden Büros: Zu beiden Seiten standen die Türen sperrangelweit auf, und der lange Flur war bis auf einen feinen Staubschleier leer. Nach ungefähr hundert Schritten erreichte er eine größere Freifläche, von der noch vier andere Flure ausstrahlten und mit seinem einen Fünfstern bildeten, den glattwandigen senkrechten Schacht nicht mitgerechnet, der von der Kreuzung mehr als zehn Meter empor zu einem Oberlicht führte. Theo konnte erkennen, daß draußen mittlerweile Dunkelheit herrschte, wobei grünlich goldene Strahlen durch die trübe Luft schnitten. Er wußte nicht, ob die Sonne tatsächlich untergegangen oder ob einfach alles schwarz vom Rauch war. So oder so war es bedrückend
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