Der Blumenkrieg
»Wochenbettdepression? Ich weiß nicht. Wir kannten uns mit solchen Sachen nicht aus. Doch eines Tages war es einfach so. Ich bin an dein Körbchen getreten, weil du in einem fort geweint hast und gar nicht mehr aufhören wolltest. Blähungen vielleicht.« Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. »Da hatte ich plötzlich das Gefühl, daß es mich kalt läßt, daß du in Wirklichkeit gar nicht mein Kind bist.« Sie runzelte die Stirn und schloß die Augen, um die richtigen Worte zu finden. »Nein, es muß anders gewesen sein. Ich hatte nicht einmal mehr ein Gefühl dafür, was ein Kind war. Bloß ein schreiendes kleines Ding. Kein Teil von mir.« Von einer Schmerzwelle erfaßt kniff sie die Augen fester zu. »Kein Teil von mir.«
»Hör doch auf, dich wegen solcher Sachen zu quälen, Mama.«
»Ich hätte mir Hilfe holen sollen. Ich versuchte, es deinem Vater begreiflich zu machen. Er verstand mich nicht und meinte, ich bräuchte einfach mehr Ruhe. Aber ich habe dich nicht so geliebt, wie ich hätte sollen. Nie. Es tut mir so leid, Theo.«
Er fühlte seine Augen brennen. »Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hast dein Bestes gegeben.«
»Das ist doch schrecklich, findest du nicht?« Ihre Augen gingen auf, weit auf, und zum erstenmal seit Tagen hatte er den Eindruck, daß sie ihn richtig wahrnahm, ganz und wahrhaftig, ihn mit einer furchtbaren Klarheit sah, in der die normale Alltäglichkeit ein einziger Albtraum war. Er bemühte sich nach Kräften, diesen durchdringenden Blick zu erwidern.
»Was meinst du, Mama? Was ist schrecklich?«
»Wenn du stirbst, und das einzige, was jemand über dich sagen kann, ist: ›Sie hat ihr Bestes gegeben.‹« Sie tat einen zitternden Atemzug und wartete dann mit dem nächsten so lange, daß sein Herz abermals zu rasen begann. Als sie endlich weitersprach, hatte sie die bebende Flüsterstimme eines verängstigten Kindes. »Könntest du mir ein Lied singen, Theo?«
»Ein Lied?«
»Ich habe dich schon … so lange nicht mehr singen gehört. Du hattest immer so eine schöne Stimme.«
»Was würdest du gern hören, Mama?«
Doch sie schloß nur die Augen und winkte schwach mit der Hand.
Der Tag fiel ihm ein, an dem er die Sache mit ihrer Krankheit herausgefunden hatte und sie am Abend ausgegangen waren, um die Band spielen zu hören. Ein altes Lied, ja, eine alte irische Weise. Die mochte sie gern.
»Nur eine Nacht in Carrickfergus«,
begann er leise,
»In Ballygrand wünscht ich mir so sehr.
Um meine Liebste zu finden, schwämm ich
Über das tiefe, das tiefste Meer.«
Sie lächelte matt, und so sang er weiter. Eine Schwester steckte den Kopf ins Zimmer, von den ungewohnten Tönen angelockt, zog sich aber gleich wieder zurück und blieb in Türnähe stehen, um zuzuhören, ohne zu stören. Theo beachtete sie nicht, denn er mußte sich konzentrieren, um sich an den Text zu erinnern, die Klage eines namenlosen Dichters.
»Doch das Meer ist breit, ich komme nicht rüber,
Auch Schwingen zum Fliegen fehlen mir jetzt
Ach, fänd ich doch einen guten Fährmann,
Der mich zur Liebsten übersetzt.
Die Kindheit weckt so süße Gedanken
An glückliche Tage vor langer Zeit.
Die Jugendfreunde und die Verwandten
Sind wie Schnee von gestern Vergangenheit.«
Die Worte kamen ihm wieder in den Sinn, zum Glück, denn er wollte den Zauber nicht brechen: Ihm war zumute, als sollte er hier ein Ritual vollziehen und nicht bloß ein altes Lied singen. Er sang es, so schlicht er konnte, und vermied die ganzen reflexhaften Manieriertheiten der Popmusik. Erst als er die letzte Strophe anstimmte, erinnerte er sich, worin es in dem Lied ging, nämlich um die Reue des Dichters im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes. Er zauderte einen Moment, doch dann sah er, daß seine Mutter schlief und dabei immer noch das Lächeln auf den Lippen hatte, zart wie Sternenlicht auf einem stillen See.
»… Ich bin betrunken, bin selten nüchtern,
Nur ein Vagabund von Stadt zu Stadt.
Ach, ich bin krank, gezählt sind die Tage,
Drum kommt, junge Männer, und legt mich ins Grab.«
Er ließ sie schlafend zurück. Die Schwester, eine junge Asiatin, lächelte und setzte an, etwas zu ihm zu sagen, als er aus dem Zimmer kam, doch dann sah sie den Ausdruck auf seinem Gesicht und schluckte es hinunter.
L etztendlich war Anna Vilmos nicht einmal mehr ein halbes Jahr vergönnt. Sie starb am 8. August mitten in der Nacht. Unter den gegebenen
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