Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blumenkrieg

Der Blumenkrieg

Titel: Der Blumenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
einer katholischen Familie, nämlich sich von Annas gewalttätigem, immer betrunkenem Vater scheiden zu lassen. Theo kannte diese Geschichte kaum, doch sie erklärte, warum er von der mütterlichen Seite der Familie so gut wie nie jemand kennengelernt hatte, und sie erklärte auch, warum Theos Oma Dowd, eine Frau mit sieben Kindern in Illinois, am Ende weit weg bei ihrer jüngsten Tochter in Kalifornien gelebt hatte.
    Als er seine Mutter so reden hörte, empfand er nach langer Zeit wieder die Lücke, die seine Großmutter in seinem Leben hinterlassen hatte. Oma Dowd war so viel liebevoller gewesen als ihre Tochter, daß Theo mitunter das Gefühl gehabt hatte, sie und er hätten so etwas wie ein geheimes Abkommen. Bei den meisten angenehmen Erinnerungen, die er hatte, kam sie irgendwo vor: Einkaufsfahrten zum Drugstore, die auch an der Süßigkeitentheke vorbeiführten, kleine Geldgeschenke, wenn seine Eltern gerade nicht hinschauten, und natürlich ihre vielen wunderbaren, verschrobenen Geschichten aus der alten Heimat, Märchen von Elfen und Riesen, bei denen seine Mutter die Augen verdrehte und die seinen Vater, den Raumfahrttechniker, regelrecht aufbrachten, weil er fand, daß seine Schwiegermutter dem Jungen »primitive Flausen« in den Kopf setzte, wie er es nannte.
    Oma Dowd war gestorben, als Theo zwölf gewesen war. Damals hatte er gedacht, das würde ihm nicht viel ausmachen, und seine eigene Kaltschnäuzigkeit hatte ihn überrascht und beeindruckt. Heute begriff er, daß er einfach zu jung gewesen war, um zu merken, wie weh es in Wirklichkeit tat.
    Und als ob im Sterben ihr Wesen irgendwie auf ihre Tochter überginge, hatte er jetzt beinahe das Gefühl, am Bett seiner Großmutter zu sitzen, was seine Eltern ihm seinerzeit nicht erlaubt hatten, als sie an Lungenentzündung gestorben war, weil sie meinten, er werde Albträume davon bekommen.
    Das ist meine ganze Familie, dachte er, während er die ausgezehrte, schlafende Gestalt seiner Mutter anstarrte. Meine ganze Familie stirbt. Ich bin der letzte, der noch übrig ist.
     
    I ch will dir etwas sagen«, ließ sich seine Mutter vernehmen. Theo schrak auf dem Stuhl hoch, aus dem Halbschlaf gerissen und aus wieder einem dieser penetranten, bestürzend eindringlichen Träume, in denen er durch beschlagenes Glas nach draußen schaute, als ob er ein Internierter oder ein gefangenes Tier in einem Terrarium wäre. Er hatte diesmal eindeutig den Eindruck gehabt, jemand anders zu sein – nicht Theo, ganz und gar nicht Theo, sondern vielmehr ein altes und kaltes Wesen, das sich bestens amüsierte. Es war beklemmend gewesen, und sein Herz hämmerte immer noch.
    Im ersten Moment, bevor er sah, daß seine Mutter die Augen offen hatte, dachte er, das Flüstern sei vielleicht Teil des Traums gewesen. Sie schlief inzwischen sehr viel, manchmal einen ganzen Vormittags- oder Nachmittagsbesuch durch. Die Leblosigkeit, mit der sie dalag wie ein steinernes Bildnis, war für ihn fast schon selbstverständlich geworden, obwohl es auch Zeiten gab, in denen sie vor Schmerzen stöhnte, selbst nachdem die Schwester ihr eine höhere Dosis Medizin verabreicht hatte; dann wünschte er sich inständig die schaurige, entrückte Starre zurück.
    Und es gab weiterhin Augenblicke der Klarheit, wie dies einer zu sein schien.
    »Was ist, Mama? Brauchst du mehr Medikamente?«
    »Nein.« Das Wort war nicht mehr als ein Fingerhut Luft, den sie nippte. Tief zu atmen bereitete ihr Schmerzen, verstärkte das Gefühl, daß der Krebs in ihr um sich griff wie ein dunkler Eroberer. »Ich will dir etwas sagen.«
    Er zog seinen Stuhl dicht an ihr Bett, ergriff ihre trockene, kalte Hand. »Ich höre.«
    »Es … es tut mir leid.«
    »Was?«
    »Daß ich dich nicht … daß ich dich nicht geliebt habe, wie ich hätte sollen, Theo.« Durch den Nebel der Benommenheit hindurch versuchte sie, ihn schärfer in den Blick zu bekommen, und vor Anstrengung rutschten ihr kurz die Augen weg. »Es war nicht deine Schuld.«
    »Ich weiß nicht, was du da redest, Mama.« Er rückte ein Stück näher heran, um sie besser zu verstehen. »Du warst immer schwer in Ordnung …«
    »Nein. Ich habe mich nicht so verhalten, wie es richtig gewesen wäre. Und zwar deshalb, weil … etwas geschah. Als du noch ein kleines Baby warst, praktisch gerade mal geboren. Ich vermute, es war so eine … wie nennt man das noch mal …?« Sie stockte, um Atem zu holen, und ihm drehte sich der Magen um, als er ihre Qual dabei sah.

Weitere Kostenlose Bücher