Der Blutengel
zuckte heftig zusammen und drehte dabei den Kopf zur Seite, damit sie mich nicht anschauen musste.
»Keine Sorge, Iris, ich werde Ihnen nichts tun. Ich möchte Ihnen nur helfen.«
»Helfen?«
»Ja.«
»Wer sind Sie?«
»Jemand, den Dr. Kellerman geholt hat.«
»Sind Sie auch Arzt?«, fragte sie mit schwacher Stimme.
»Nein, das bin ich nicht. Aber was Ihnen passiert ist, geht auch mehr mich an als einen Arzt.«
»Ich weiß nicht...«
Ich streckte ihr meine Hände entgegen. Nach einigem Zögern griff sie zu, und so half ich ihr, wieder auf die Füße zu kommen. Auch als sie stand, ließ ich sie nicht los und spürte, dass sie zitterte. Die Erinnerung an den Angriff musste bei ihr wieder zurückgekehrt sein, denn sie bewegte den Kopf und schaute sich um.
»Er ist nicht mehr da.«
»Stimmt. Ich konnte ihn vertreiben.«
Ich hoffte, dass ihr meine letzte Antwort wieder etwas Hoffnung gegeben hatte, aber Iris King reagierte nicht mal mit einem Nicken. Sie schaute an mir vorbei.
Ihr Körper zitterte. Als ich über ihre Schulter strich, fühlte ich unter dem Stoff die Kälte der Haut. Sie schloss auch für einen Moment die Augen, dann begann sie zu weinen und lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter.
Hinter mir hörte ich das Stöhnen. Als ich mich umdrehte, sah ich Dr. Kellerman, der den Kopf schüttelte und dabei über sein Gesicht strich. Er sprach leise und mehr zu sich selbst.
»Ich fasse es nicht. Es ist einfach unglaublich. So etwas ist mir noch nie passiert. Als hätte ich einen Schlag bekommen, der eigentlich keiner ist.« Er hob ratlos die Schultern an und schaute mich ebenso ratlos an. »Sagen Sie was, Mr. Sinclair.«
»Nicht jetzt und nicht hier.«
»Sondern?«
»Wir müssen Iris King hier wegschaffen. Aber nicht mehr zurück zu den beiden Frauen. Haben Sie noch ein Zimmer, das leer steht?«
»Kaum. Sie kennen ja unsere Lage. Man spricht nicht grundlos von überfüllten Krankenhäusern und entsprechend gestressten Ärzten. Aber ich glaube, es gibt da noch eine Kammer. Es ist ein Raum, in dem manchmal noch Tote für eine gewisse Zeit aufbewahrt werden. Im Moment gibt es dort keinen Gast.«
»Steht dort ein Bett?«
»Mehrere.«
»Gut, dann bringen wir Iris dorthin. Später kann sie dann wieder zurück.«
»Okay.«
Wir hatten leise gesprochen, weil wir nicht wollten, dass Iris King uns hörte. Zu Dr. Kellerman hatte sie mehr Vertrauen. Sie ließ sich von ihm aus dem Toilettenraum in den Flur führen. Schräg gegenüber schloss der Arzt eine Tür auf und machte auch Licht.
Als ich den Raum betrat, sah ich zwei Betten, die nebeneinander standen. Für zwei weitere war auch noch Platz, wenn sie mit den Toten hineingerollt wurden.
Ich hatte auf dem Flur die kleinen Flaschen mit dem Mineralwasser gesehen. Eine nahm ich mit, drehte den Verschluss auf und reichte sie an Iris.
»Bitte, trinken Sie. Man fühlt sich danach bestimmt besser.«
Sie nahm die Flasche entgegen. Dann trank sie, und wir warteten ab, bis sie genug hatte. Mit einer schwachen Bewegung stellte sie die halb leere Flasche ab und flüsterte: »Hier will ich auch nicht bleiben. Ich habe hier Angst.«
»Das brauchen Sie auch nicht«, beruhigte der Arzt sie. »Wir möchten uns nur in Ruhe mit Ihnen unterhalten.«
»Ich weiß nichts.«
»Das kann man nie so genau sagen«, erwiderte Dr. Kellerman. »Auch ich habe etwas Ähnliches erlebt wie Sie. In mich ist dieses Andere ebenfalls eingedrungen, wobei ich dann den Eindruck hatte, dass ich von einem Stromwirbel erfüllt war. Alles in mir war plötzlich anders, aber ich kann es nicht beschreiben.«
Es konnte sein, dass Dr. Kellerman den richtigen Ton getroffen hatte und Iris King ihr Schweigen brach. Den Gefallen tat sie uns nur indirekt, denn sie zuckte die Achseln und flüsterte: »Es ist bei mir alles so fremd gewesen. Ich weiß es auch nicht. Ich kann darüber nicht wirklich sprechen.«
»Was haben Sie denn gesehen?«, wollte ich wissen.
»Die Gestalt«, flüsterte sie.
»Die Frau?«
»Ja.«
»Und was war mit dem Blut?«
Ich hatte wohl die falsche Frage gestellt, denn zuerst zuckte Iris zusammen, dann schrie sie leise auf. »Ja, ja, ich habe das Blut gesehen. Es war die Tür, die blutige Tür, und aus ihr ist sie gekommen. Dann war sie bei mir und...« Mehr sagte sie nicht, schlug die Hände vors Gesicht und senkte den Kopf.
Wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst waren, konnten wir unsere Lage nur als hilflos bezeichnen. Wir wussten nicht, wo wir ansetzen sollten, und es war
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