Der Blutengel
wurde immer wieder in die Höhe getrieben, fiel zurück, schnellte wieder hoch, aber das alles schien sie nicht aus eigener Kraft durchzuziehen, sondern weil irgendein Satan in ihrem Körper steckte. Den Mund hatte sie weit aufgerissen, das sah ich, weil sie sich auf den Rücken warf.
Und mein Kreuz klemmte zwischen ihren Handflächen. Sie wurde es einfach nicht los. Sie war aber nicht von einer Lichtglocke umgeben, denn die Kraft meines Talismans schoss nach innen und sorgte dort für eine Veränderung.
Letzte Schreie fegten aus ihrem Mund. Ich sah sie nicht als menschliche Todesschreie an. Mir kamen sie vor wie ein wütendes Quietschen irgendeiner Person, die einsehen musste, dass sie verlor.
Noch einmal schleuderte sie hoch. Sie erreichte sogar die Höhe meiner Hüfte, aber sie schwebte nicht in der Luft, wie es in dem Film ›Der Exorzist‹ gezeigt worden war.
Mit ihrem gesamten Gewicht fiel sie nach unten, federte auf der Matratze noch mal nach, wobei ein hundeähnliches Heulen aus ihrem Mund drang, das wir alle als letzten Laut hörten.
Danach blieb sie liegen und bewegte sich nicht mehr. Ich ging davon aus, eine Tote zu sehen, eine endgültig Tote, und ich sah auch, was sich zwischen den halb geöffneten Lippen zeigte. Zuerst sah es aus wie Schaum, aber es warf keine Blasen, denn wenig später sickerte es aus dem linken Mundwinkel und rann wie weißes Öl am Kinn entlang.
Es war die Gaze, die ich schon kannte, doch diesmal rann sie aus dem Mund einer Toten. Bei Iris King war es anders gewesen. Sie hatte noch nicht so stark unter der Kontrolle gestanden, da war ich schneller gewesen. Nicht bei Helen.
Ich beugte mich über sie, nahm ihr das Kreuz wieder aus den Händen und untersuchte sie.
Ja, ich hatte mich nicht geirrt. Sie war tot, aber nicht nur sie, auch das, was in ihr gewesen war, hatte ich vernichtet. Es wäre irgendwann verstärkt aus ihrem Körper herausgekommen, und dann hätte dieser Blutengel sein Ziel erreicht.
Noch immer unter dem Eindruck stehend, drehte ich mich um. Suko hielt sich in der Nähe der Tür auf. Er hatte sich bis an die Wand zurückgezogen. Seine Arme lagen um Iris Kings Körper. Die junge Frau hatte sich fest an Suko gepresst und ihr Gesicht gegen seine Kleidung gedrückt, damit sie nichts von diesem Grauen hatte sehen müssen.
»Ist sie...?«, fragte Suko.
Ich nickte. »Ja, sie ist tot«, erwiderte ich leise. »Aber das war sie schon vorher, denke ich.«
»Wieso?«
»Der andere Geist steckte in ihr. Der Blutengel. Er hatte sie bereits übernommen und sich gestärkt. Iris hatte Glück, Helen nicht. Sie war schon zu stark infiziert.«
»Wie die Männer aus der Gruppe – oder?«
»Genau. Zu ihnen ist niemand hingekommen, um ihnen zu helfen. Wenn ich richtig gerechnet habe, dann sind es vier Tote gewesen und damit auch vier Blutengel, die es geschafft haben.«
»Gratuliere.«
»Nicht mir.«
»Nein, uns, John, denn ich weiß, dass wir noch etwas vor uns haben, das steht fest.«
»Leider kann ich dir da nicht widersprechen...«
***
Selten habe ich einen so entsetzten Menschen gesehen, wie es bei Charlotte March der Fall war. Sie musste die Schreie gehört haben, sie war in das Zimmer gestürzt, und dann hatte sie die Tote auf dem Bett liegen sehen.
Dann war der Schock gekommen. Er hatte sie getroffen wie ein brutaler Schlag. Fassungslos stand sie vor dem Bett, und nur ihre Mundwinkel zuckten.
Ich sah, dass sie sich wieder fing und deshalb auch nachdenken und überlegen konnte.
»Wer hat das getan?«
»Bitte, Mrs. March, wir...«
»Hören Sie auf, Sinclair. Sie haben Helen Spride umgebracht.«
»Sehen Sie eine Verletzung? Eine Kugelwunde? Einen Messerstich? Oder Würgemale?«
Sie ließ meine Argumente nicht gelten und winkte heftig ab. »Sie als Polizist kennen da bestimmt Tötungsarten, die nicht auffallen. Das gibt es doch, oder?«
»Bestimmt. Aber nicht in unserem Job. Sehen Sie sich einen Bondfilm an oder forschen sie bei den Killern der Geheimdienste nach. Da werden Sie vielleicht fündig.«
»Ich halte mich an Sie, Mr. Sinclair. Ich leite hier diese Anstalt, und ich bin stolz darauf. Auch wenn nicht immer alles so klappt, wie man es sich vorgestellt hat, aber Morde sind hier noch nicht passiert. Sie werden sich eine verdammt scharfe Untersuchung gefallen lassen müssen.«
»Helen Spride war bereits nicht mehr am Leben, als wir dieses Zimmer betraten. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Für Charlotte March war es allerdings noch kein Abschluss.
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