Der Blutengel
Augen, die uns sehr hart anblickten.
»Reden Sie«, flüsterte ich Iris zu.
»Gut.« Sie hatte Mühe damit. Wenn ich sie so anschaute, dann konnte ich nicht eben behaupten, dass die beiden Frauen Freundinnen waren. Sie wirkten eher wie Fremde.
Iris Kings Stimme klang leise und unsicher, als sie den ersten Satz formulierte.
»Erkennst du mich nicht mehr, Helen?«
Die Angesprochene hob den Blick. »Doch, ich erkenne dich. Du bist Iris King.«
»Genau, Helen.«
»Und weshalb bist du hier?«
»Um dich zu besuchen.«
Die Gefangene fing an zu lachen. »Was soll das? Warum willst du gerade mich besuchen? Das ist Unsinn, das ist Quatsch. Ich brauche dich nicht zu sehen.«
»Sag das nicht. Es könnte falsch sein. Erinnere dich bitte daran, was wir gemeinsam erlebt haben. Wir waren zu sechst in der Gruppe. Weißt du das noch?«
»Ach ja?«
Iris schüttelte den Kopf. »Du musst dich doch daran erinnern. Wir alle hatten unsere Probleme. Wir haben uns in der Engelsburg getroffen. Wir wollten aus unserem Leben wieder etwas machen und es in den Griff bekommen. Deshalb haben wir der Stimme zugehört. Wir alle waren fasziniert, weil wir davon überzeugt waren, dass aus einem anderen Reich zu uns gesprochen wurde. Erinnere dich an die Stimme und daran, was wir gesehen haben.«
Helen Spride hatte zugehört, ohne eine Miene zu verziehen. Sie hatte auch nichts gesagt, nun aber übernahm sie das Wort. »Geh wieder, geh. Du bist nicht würdig, dass man dich besucht.«
»Bist du es denn?«
»Ja!«
»Hat man dich besucht?«
»Ja, das hat man.«
»Und wer ist es gewesen?«
»Ich werde es dir nicht sagen. Ich bleibe dabei. Du bist nicht würdig.«
Es war zu sehen, dass sich unser Schützling aufregte. Iris hatte einen roten Kopf bekommen. »Wie kannst du so etwas sagen, dass ich nicht würdig bin, verflucht? Ich war dabei, du warst dabei. Vier andere Personen auch, aber sie sind tot, verstehst du? Man hat sie umgebracht, und ich wäre es fast auch gewesen, wenn man mir nicht im letzten Augenblick geholfen hätte. Wir sind gekommen, um dich zu warnen. Wir wollen nicht, dass es dir ebenso ergeht.«
»Ich kann nichts dafür, dass sie tot sind. Ich lebe, und das ist wichtig für mich.«
»Ja, du lebst, das sehe ich. Aber du bist anders geworden als früher. Was ist mit dir passiert?«
»Ich bin nicht mehr allein«, erklärte Helen Spride. »Ich habe es geschafft und bin vollkommen geworden. Akzeptiere dies endlich, verdammt noch mal. Und dann verschwinde.«
»Nein, so schnell wirst du mich nicht los. Du siehst nicht anders aus als früher. Wie kannst du sagen, dass du vollkommen geworden bist? Wer gibt dir das Recht?«
»Ich selbst.«
»Irrtum, Helen. Der Mensch ist nicht vollkommen. Der Mensch steckt voller Probleme, das haben wir erlebt. Sonst hätten wir uns nicht in dieser Gruppe getroffen. Wir alle haben die Stimme gehört, aber wir haben nichts gesehen und...«
Helen Spride ließ Iris nicht weitersprechen. Sie richtete sich auf. Um uns hatte sie sich bisher nicht gekümmert. Sie schien uns überhaupt nicht wahrgenommen zu haben, aber auf Iris hatte sie es abgesehen. Da sie einen Schritte vor uns stand, hatte Helen es leicht, sie zu erreichen.
»Du hast nicht hören wollen«, sagte sie und fuhr fort: »Du hast auch nichts begriffen, und deshalb wirst du jetzt die Konsequenzen tragen müssen, kleine Iris...«
Die junge Frau ahnte, dass etwas auf sie zukam. Sie wollte zurück, aber Fielen war schneller.
Sie schlug die Hände auf Iris Schulter, riss sie zu sich heran und presste ihre Lippen auf den fremden Mund...
***
Ich konnte selbst nicht sagen, weshalb wir nicht eingegriffen hatten. Wahrscheinlich waren wir zu sehr darauf eingestellt gewesen, dass Iris für uns die Rätsel löste. Außerdem hatten wir uns einer gewissen Faszination dieser Person nicht entziehen können.
Auf der anderen Seite hatten wir auch die Veränderung der Iris King erlebt und ihr eigentlich zugestanden, dass sie sich in den Fall tief hineinhängte.
Doch jetzt lagen die Dinge anders. Sie hatte Helen Spride ihr Geheimnis nicht entlocken können, und dann hatte Helen auf eine Art und Weise reagiert, wie wir es nicht für möglich gehalten hatten.
Helen presste ihren Mund auf Iris Lippen und hatte die junge Frau damit so überrascht, dass diese nicht in der Lage war, sich zu wehren. Wie eine Puppe hing sie in den Armen der anderen, und es würde ihr kaum möglich sein, sich aus eigener Kraft zu befreien.
Dafür sorgten wir, nachdem wir
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