Der Blutfluch: Roman (German Edition)
einen Trugschluss ihrer verwirrten Sinne. Auch die Worte, die geflüstert an ihr Ohr drangen, schienen ihr fern.
»Ist sie noch am Leben?«
»Keine Sorge. Seht doch, sie atmet.«
»Aber sie ist kalt wie Eis.«
»Ihresgleichen ist Kälte gewöhnt.«
Das Rütteln an Alizas Schulter wollte ebenso wenig aufhören wie das Raunen menschlicher Stimmen. Verwirrt blinzelte sie in grelles Licht und schloss die Lider sofort wieder. Das Leuchten war nach Tagen der Dunkelheit pure Folter.
»Aliza! Komm zu dir. Es eilt.«
Tonfall und Stimme kamen Aliza bekannt vor.
Clementia?
Langsam zeichneten sich Umrisse vor ihren Augen ab. Zwei Menschen. Die Herzogin und ein Mönch.
»Was …«, stammelte Aliza.
»Fragen kannst du später stellen. Hat man dich gefoltert?«
»Keine Sorge, sie scheint unverletzt. Was wie Blut aussieht, ist Schmutz.«
»Was … wollt Ihr von mir …?«
»Wir holen dich aus diesem Loch. Kannst du auf eigenen Beinen stehen? Helft ihr hoch, Bruder Diebold!«
Steifgefroren und schwach, fehlte Aliza jeder Funke Kraft.
»Von wegen, an Härte gewöhnt. Jede neugeborene Katze ist schneller auf den Beinen. Was fehlt ihr?«
»Das Übliche, Herrin. Kälte, Hunger und Durst lassen die Kräfte schwinden.«
Verachtung schwang in der Stimme des Mönchs. Aliza erkannte in ihm Clementias Hauskaplan, einen Benediktinermönch, der das Gesinde stets mit herablassender Gleichgültigkeit behandelte. Was ausgerechnet er hier suchte? Geistlichen Zuspruch erteilte er nur den hohen Herrschaften.
Verbissen kämpfte sich Aliza aus eigener Kraft in den Stand. Was immer Clementia mit ihr im Sinn hatte, sie würde es nicht widerstandslos über sich ergehen lassen.
»Vielleicht hilft das fürs Erste.« Der Mönch griff in eine Stofftasche und brachte ein Tongefäß zum Vorschein.
»Der Messwein wird ihr Blut erwärmen und sie wenigstens für kurze Zeit beleben.«
»Sehr gut«, lobte Clementia, während der Bruder auch noch einen Becher in der Tasche fand.
Clementia hielt ihr den Wein an die Lippen. »Trink langsam, damit du dich nicht verschluckst.«
Alizas Gaumen schmeckte das volle Aroma sorgsam gekelterter Trauben. Weich rann ihr der Wein durch die Kehle und hinterließ eine Spur von Wärme.
»Knie nieder und beug den Kopf«, kommandierte Clementia, sobald der Becher leer war. »Ich muss mich um dein Haar kümmern.«
Der Wein hatte Alizas Lebensgeister geweckt.
»Bin ich etwa verurteilt?«
»Der Himmel bewahre uns davor«, entgegnete Clementia. »Es darf weder zu einem Prozess noch zu einer Verurteilung kommen, wenn sich der Skandal in Grenzen halten soll. Du musst so schnell wie möglich hier weg. Aber lass uns einen Schritt nach dem anderen tun. Erst dein Haar.«
»Ich will es flechten«, schlug Aliza vor und versuchte die verdreckten, verfilzten Zoten in drei Stränge zu teilen.
»Der Schweif eines Karrengauls ließe sich leichter in eine Frisur verwandeln«, kommentierte Clementia verächtlich. Sie griff an den Gürtel unter ihrem Umhang nach einem scharf geschliffenen Silberdolch.
»Das Haar muss ab. Mach schon, beug den Nacken.«
Sie drückte sie an der Schulter zu Boden, griff ihr ins Haar und riss ihr den Kopf nach vorne.
»Was tut Ihr?«, ächzte Aliza. »Ich bin keine Dirne. Ihr könnt mich nicht an den Pranger stellen!«
»Das hat niemand vor. Du sollst mich begleiten, in einer Mönchskutte und hoffentlich mit so sicherem Schritt, dass man dich im Dunkel der Nacht für Bruder Diebold halten kann.«
»Halbnackt? In diesen Lumpen?«
»Bruder Diebold trägt zwei Kutten übereinander. Eine ist für dich. Und nun Schluss mit dem Gerede.«
Im Schein der Laterne fielen Alizas lange Haare von ihr ab. Kahl und stoppelig spürten ihre tastenden Finger den Schädelknochen, als wäre sie eine Greisin.
»Runter mit diesem Kittel. Er stinkt nach Kerker.«
Clementia setzte kurz entschlossen die Dolchspitze in den Halsausschnitt und durchtrennte das grobe Gewebe. Haltlos rutschte das Hemd über Schultern und Leib. Mit einem Aufschrei versuchte Aliza Brust und Scham mit Armen und Händen zu verbergen, doch da warf ihr die Herzogin schon die Kutte über, die Bruder Diebold in der Zwischenzeit ausgezogen hatte.
»Es ist ein Segen, dass du halbwegs groß geraten bist. Mit gesenktem Kopf gleichst du Bruder Diebold im Dunkeln einigermaßen. Die Kapuze ziehst du weit in die Stirn, den Kopf senkst du. Keiner wird dir näher ins Gesicht sehen.«
»Was passiert mit Bruder Diebold, wenn ich statt seiner mit Euch
Weitere Kostenlose Bücher