Der Blutfluch: Roman (German Edition)
nur nicht überschätzt, geliebte Schwester«, gab sie ihr spöttisch zurück.
Es ging wohl nicht anders.
Sizma wollte mit gespreizten Fingern auf Aliza losgehen, aber Leena fuhr erbost dazwischen.
»Auseinander. Was sollen diese Kindereien? Sizma, du putzt unverzüglich die Pilze, die wir gestern gesammelt haben. Blitzsauber fädelst du sie danach zum Trocknen auf. Aliza, du gehst der Großmutter beim Gerben der Hasenfelle zur Hand. Die Bottiche sind jetzt voll genug dafür.«
Die Befehle prasselten wie Hagelkorn herab. Beide Töchter zogen gemeinsam den Kopf ein. In dieser Stimmung war mit Leena nicht gut Kirschen essen. Sie wurde noch zorniger, als sie hörte, dass Tibo das Lager näher an die Wegkreuzung, direkt neben die Landstraße nach Regensburg, verlegen wollte.
»Du wirst uns in des Teufels Küche bringen«, warf sie ihm unter vier Augen vor. »Warum können wir uns nicht einfach auf den Weg in die Stadt machen und uns dort unter die anderen Fahrenden mischen? In der Menge fallen wir nicht auf. Für die Marktaufseher und braven Bürger sehen wir alle gleich aus. Eine einzelne Gruppe hingegen erregt viel zu viel Aufmerksamkeit. Du weißt, wie leicht sie uns Wilderei, Hurerei und Diebstahl vorwerfen. Kaum fehlt eine Gans auf dem Dorfteich, schon sind wir es gewesen.«
Tibo blieb unbeeindruckt von ihrer Warnung und gab ihr stattdessen Order.
»Sieh du zu, dass sich die ansehnlichen unter den Frauen besonders herausputzen und die alten Weiber ihre Karten bereitlegen. Ein buntes Lager zu Füßen der Burg, aufreizende Trommelklänge und die Tänze unserer Mädchen werden die Männer in Scharen an unsere Feuer locken. Hier sind wir die Einzigen, während sich in Regensburg Gaukler und Nichtsnutze gegenseitig auf die Füße treten. Hier können wir besser verdienen. Und uns womöglich mit vollem Säckel noch vor dem ersten Schnee auf den Weg zum Rhein machen und von dort weiter nach Süden aufbrechen. Mir steht nicht der Sinn nach einem weiteren Winter in diesem kalten Land.«
Er schlug ihr kräftig aufs Hinterteil und ging, ehe Leena sich von ihrer Überraschung erholt hatte. Zum ersten Mal hatte Tibo eben eingestanden, dass er es bereute, so weit nach Norden gezogen zu sein. Entgegen ihren Hoffnungen waren die Menschen im Königreich Deutschland weder reicher noch freigiebiger als in Burgund oder im Königreich Frankreich. Im Gegenteil, sie waren abweisender und misstrauischer als die Welschen. Sogar ihre Almosen gaben sie lieber den eigenen Bettlern vor der Kirchentür als einer Tamara-Mutter mit ihrem Kind.
Die Möglichkeit, dem nächsten Winter zu entkommen, beflügelte Leenas Tatendrang so, dass sie eilends die Bestrafung ihrer Töchter aussetzte. Sie hatte dringlichere Arbeit für sie. Um die Wagen mit den schwerfälligen hölzernen Scheibenrädern aus den Flussauen auf die Straße zurückzubringen, mussten die Zugpferde und Maultiere entlastet werden. Sie waren vom Wanderleben gezeichnet, ihre Knochen stachen scharf durch das Fell. Die drei kostbaren Reitpferde, die Tibo und seine Stellvertreter ritten, durften natürlich nicht für solche Kärrnerarbeit eingesetzt werden. Also mussten sich die Frauen gegen die Räder stemmen und mit hochroten Köpfen schieben.
Beschwerlich langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Zum ersten Mal wurde sich Aliza der Armut ihrer Sippe in ihrem ganzen Ausmaß bewusst. Alles, was sie besaßen, war schäbig und gebraucht, geflickt und dürftig. Sogar ihre besten Kleider bestanden aus einem Sammelsurium von Lumpen. Die halbnackten Kinder, die die Ziegen vor sich hertrieben, zeigten alle denselben hungrigen Gesichtsausdruck. Die Alten und Schwachen hockten in sich zusammengesunken auf den Wagen oder humpelten gebückt, auf Stöcke gestützt, nebenher. Nicht einmal die Katzen, die sich unterwegs an Ratten und Mäusen satt essen konnten, wirkten gepflegt oder wohlgenährt. Kein Wunder, dass Leena sich sorgte, wenn sie an den bevorstehenden Winter dachte.
Aber welche Möglichkeit bot sich einer Tamara, dem Elend zu entkommen? Die Armenhäuser in den Städten und Dörfern verschlossen ihre Pforten vor den Fahrenden. Mit der Mildtätigkeit der Bürger konnten sie nirgends rechnen. Ein guter Teil der Diebstähle wurde aus reiner Verzweiflung begangen. Vor die Wahl gestellt, zu stehlen oder zu verhungern, hatte auch Aliza schon Feldfrüchte, Hühner oder Brot gestohlen.
Die rechte Hand in die Mähne des Maultiers vergraben, das den Karren mit Leenas Vorräten zog, verzog sie
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