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Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Titel: Der Blutfluch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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Sinn gehabt hätte, nach der Schleuder zu greifen.
    Neidvoll verfolgte Aliza ihren Flug, ehe sie sich wieder den Pflanzen zuwandte, die auf den Schilfinseln und unter den Weiden wuchsen. Leena bestand darauf, dass Pfefferminze und Wilder Majoran bei Sonnenaufgang gesammelt wurden, weil sie zu dieser Zeit im besten Saft standen. Außerdem hatte Aliza den Auftrag, alles an Früchten und Beeren zu sammeln, was sie entdeckte. Die Mutter hätte sie auch dafür gescholten, dass sie nicht schnell genug gewesen war, die Ente zu erlegen. Leena hielt es für Schwelgerei, Tiere zu beobachten. Für sie waren sie nur im Kessel von Nutzen.
    Wie jedes Jahr gegen Ende des Sommers kannte sie nur ein Ziel – genügend Vorräte anlegen. Mit Hilfe ihrer Töchter trocknete, räucherte und legte sie ein, was ihnen an Essbarem in die Finger kam. Niemand konnte vorhersagen, wo sie ihr Winterquartier aufschlagen mussten. Welche Möglichkeiten es dort gab, die Sippe mit Nahrung zu versorgen. Wenn Schnee und Eis die Straßen blockierten, war es zu spät, sich zu kümmern.
    Das Sammeln und Ernten liebte Aliza. Vor allem liebte sie es mehr als das Tanzen. Es gefiel ihr, für sich zu sein und den Korb mit all dem zu füllen, was die Natur für die Menschen bereithielt. Sie schätzte auch die Ungestörtheit, die es ihr ermöglichte, dabei den eigenen Gedanken nachzuhängen. Seit Leena ihr die Wahrheit über ihre Herkunft verraten hatte, war nichts mehr wie zuvor.
    Zu wem gehörte sie? Woher kam sie? Wessen Blut floss in ihren Adern und wer war ihre Mutter? Leena verweigerte sich ihren Fragen.
    Du bist meine Tochter, das ist alles, was zählt.
    So viel einfacher es für Aliza gewesen wäre, das zu akzeptieren, so sehr sträubte sich alles in ihr dagegen. Sie fühlte sich nicht länger als Teil der Sippe und verbarg ihre Entfremdung hinter übereifrigem Gehorsam und übertriebener Pflichterfüllung. Ja, sie übernahm sogar oft Sizmas Arbeiten, die sich wie gewohnt gerne vor jedem Handstreich drückte.
     
    Auch heute Morgen hatte Sizma Aliza den Rücken gekehrt, als sie sie wach rütteln wollte.
    Sizma war im ganzen Stamm die Einzige, die ihr ununterbrochen vorhielt, dass sie keine Schwestern seien. Die anderen, die es längst gewusst oder anlässlich des lautstarken Krachs zwischen Tibo und Leena erfahren hatten, gaben keinen Kommentar dazu ab. Oberflächlich betrachtet, verlief das Leben des Stammes in gewohnten Bahnen. Sie zogen über die Landstraßen, boten in Dörfern und Städten ihre Dienste als Kesselflicker, Korbflechter oder Messerschleifer an und reisten weiter, wenn die eigene Unruhe sie dazu trieb oder die lokalen Büttel das Lager gewaltsam auflösten.
    Wenn es etwas gab, über das der Stamm sich erregte, dann war dies die Entscheidung des Ältestenrates. Er hatte Milosh untersagt, Aliza zur Frau zu nehmen. Wie Großmutter Rupa und Leena diese Entscheidung durchgesetzt hatten, gab keine der beiden preis. Aber sie hatte zur Folge, dass Tibo voller Wut auch Sizmas Hochzeit abblies. Seitdem war er noch schwerer zu ertragen als je zuvor. Ohnehin reizbar und gewalttätig, brach er bei jeder Gelegenheit eine Prügelei vom Zaun, und auch die Töchter lernten seine Gewalttätigkeit mehr denn je fürchten.
    Alizas Verbundenheit mit dem Mann, den sie nicht mehr Vater nennen wollte, hatte sich in Luft aufgelöst. Sie schuldete ihm nicht mehr als den Respekt gegenüber dem Stammesführer. Aber sogar den konnte sie in Anbetracht seines Verhaltens schwer aufbringen.
    Nur Leena zuliebe wahrte Aliza den Schein. Sie hätte ihr den Kummer gerne erspart, der ihr Falten des Grams ins Gesicht schrieb, denn wenn sie auch nicht ihre leibliche Mutter war, so war sie doch der einzige Mensch, von dem Aliza wusste, dass er sie ohne Vorbehalt liebte.
    Im Vorbeigehen zupfte Aliza die Hagebutten von einem Heckenrosenbusch und schlug einen Bogen um die Stelle, wo Tibo den Jungen des Stammes am seichten Flussufer zeigte, wie sie Fische mit bloßen Händen fangen konnten. Auch hier sparte er nicht mit Backenschlägen, wenn sich einer von ihnen zu dumm anstellte oder sich im Wasser bewegte und dabei die Fische verjagte.
    Ob die Wachen auf den Zinnen der Burg Donaustauf dem Treiben unten am Fluss Aufmerksamkeit schenkten? Meist sahen es die Einheimischen nicht gerne, wenn die Fahrenden vor den Burgen lagerten und ihnen die Fische wegfingen oder die Wasservögel aufstörten.
    Aliza legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf zum Hochplateau jenseits der Landstraße

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