Der Blutkelch
ausreichend, um auch selbst ein bescheidenes Mahl einzunehmen. Es war ein wolkenloser und warmer Tag, sie nahmen im Freien Platz. Ein Stallbursche kümmerte sich um die Pferde, und der Gastwirt brachte ihnen Erfrischungen. Da er keine anderen Gäste hatte, leistete er ihnen Gesellschaft, schwatzte über die Aussichten auf eine gute Ernte, über den schönen Sommer und Neuankömmlinge, die sich bei der Abtei ansiedelten. Fidelma hatte wenig Geduld, ihm zuzuhören.
»Kann man die Brücke sicher überqueren?«, fragte Eadulf den Gastwirt und leerte seinen Krug.
»Die Brücke und sicher?« Der Gastwirt war ein kräftiger Mann mit schütterem Haar und leicht vorstehenden Augen.Seine Hängebacken bebten vor Lachen. »Guter Bruder, eine ganze berittene Truppe des Königs könnte mehrmals hinüber und herüberreiten, ohne dass auch nur eine Planke erzittern würde.«
»Mir geht es weniger um den Reitertrupp als um meine eigene Sicherheit«, meinte Eadulf verdrießlich.
Ehe sich eine lange Unterhaltung entspann, stand Fidelma auf und bedeutete dem Stallburschen, die Pferde zu bringen. Gormán beglich die Rechnung bei dem Gastwirt, und gleich darauf überquerten sie die neue Brücke. Sie war in der Tat solide gebaut, und das war auch gut so, denn unter ihnen peitschte die Strömung mit aller Macht gegen die Pfeiler. Man hatte die dicken Baumstämme, auf denen die Querbalken ruhten, tief ins Flussbett gerammt, dreißig insgesamt, fünfzehn auf jeder Seite. Die Breite entsprach, wie die irischen Straßen auch, dem von den Brehons erlassenen Gesetz: zwei Gefährte mussten mit genügend Abstand aneinander vorbeikönnen. Es war ein leichteres Überqueren des Flusses als das letzte Mal, da hatten sie die reißenden Wasser auf den Pferden durchwaten müssen.
»O ja, die Brücke ist von großem Vorteil für die alte Straße«, stellte Fidelma fest, als sie auf der anderen Seite waren. »Wir haben jetzt sicher Zeit gewonnen.«
Und tatsächlich standen sie schon bald vor dem nächsten natürlichen Hindernis. Diesmal war es ein kleinerer Fluss, die Teara, ein Nebenarm des Siúir, den sie eben hinter sich gelassen hatten. Hier war die Furt weniger schwierig, denn in der Mitte lag eine Insel, die eine Überquerung des Flusses in zwei kürzeren Abschnitten möglich machte.
»Das ist die Stelle, von der die Straße angeblich ihren Namen hat«, unterbrach Gormán das Schweigen, dem das lange Reiten ohne ein Wort der Unterhaltung missfiel.
»Ich bin schon etliche Male hier entlanggeritten«, entgegnete Eadulf, »bin aber nie dahintergekommen, warum der Verbindungsweg ›Fährte von Patricks Kuh‹ heißt.«
»Weshalb man sie Rian Bó Pádraig nennt?« Gormán blickte zu Fidelma und zögerte einen Augenblick. »Es gibt da eine alte Legende.«
»Du kannst sie ruhig erzählen«, meinte sie. Ihr war die Legende nicht unbekannt.
»Die Alten wissen zu berichten, dass der heilige Pádraig, der geholfen hatte, besonders in den nördlichen Königreichen den Glauben zu verbreiten, eine Kuh besaß, und die Kuh hatte ein Kalb. Die Kuh und das Kalb weideten friedlich an den Ufern der Teara, so heißt der Fluss hier, den wir gerade überqueren. Glaubt man der Geschichte, so kam ein Dieb aus dem nahe gelegenen Ard Mór und stahl das Kalb. Die Kuh aber jagte dem Dieb hinterher und ließ die ganze Strecke bis nach Ard Mór nicht von ihm ab, und so trampelte sie die Spuren für den Weg.«
Eadulf schien die Erklärung fragwürdig, und pedantisch, wie er war, merkte er an: »Die Straße hier führt doch aber von Cashel nach Lios Mór.«
»Und weiter bis nach Ard Mór«, ergänzte Gormán grinsend.
»So genau darf man es mit der Geschichte nun auch nicht nehmen«, mischte sich Fidelma ungeduldig ein. »Es ist und bleibt eine Legende. Die Straße ist viel älter und stammt noch aus der Zeit vor dem heiligen Pádraig. Bei Cashel stößt sie auf den Slíge Dalla, den Weg der Blinden, der, wie du dich erinnern wirst, eine der fünf großen Verbindungsstraßen nach Tara ist. Niemand weiß, wie solche Legenden entstanden sind. Lange bevor Pádraig hierherkam, bekehrte der heilige Aílbe unser Königreich zu dem neuen Glauben, das warauch noch, ehe Declan in Ard Mór seine Abtei baute. Weshalb sollte Pádraig bei den vielen Flüssen, die es in Irland gibt, ausgerechnet hier an der Teara eine Kuh weiden lassen? Das ist doch unlogisch.«
»Legenden entstehen oft als Folge von nur halb verstandenen Geschehnissen«, sagte Gormán ernst, »oder von Ereignissen,
Weitere Kostenlose Bücher