Der Blutkelch
Abtei reiten sehen, wie ich auf dem Acker arbeitete, aber ich glaube, das war ein paar Tage, bevor er tot in der Zelle gefunden wurde.«
»Bist du ihr jemals wieder begegnet, seit sie dir erlaubt hatte, sich der Klostergemeinschaft anzuschließen?«, fragte Eadulf weiter.
»Sehr oft«, bestätigte Bruder Gáeth, und sein Gesicht verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln. »Wenn ich sage ›ich bin ihr begegnet‹, dann heißt das, sie ist bei ihren Besuchen an mir vorbeigeritten. Ob sie mich dabei gesehen hat, weiß ich nicht. Das war auch nicht anders, als ich auf ihren Feldern gearbeitet habe. Vielleicht hat sie mich gar nicht erkannt, ich war eben nur einer von den Ackerknechten.«
»Weißt du, was sie von ihren Söhnen hielt?«, fragte Fidelma.
»Oh, sie hat sie geradezu vergöttert. Sie war sehr stolz aufdie beiden. Lady Eithne ist es zu verdanken, dass in der Abtei so viel gebaut wird.«
Eadulf richtete sich überrascht auf. »Willst du damit sagen, all die Umbauten sind auf sie zurückzuführen?«
Bruder Gáeth wunderte sich über eine derartige Frage. »Natürlich. Als die Nachricht eintraf, dass ihre Söhne Cathal und Donnchad das Heilige Land erreicht haben, kam sie zum Abt. Jeder in der Gemeinschaft weiß es, sie bot an, auf ihre Kosten die aus Holz gebauten Häuser der Abtei durch große, aus Stein errichtete Gebäude zu ersetzen. Die sollten dauerhaft sein bis in alle Ewigkeit und dazu beitragen, aus dieser Klosteransiedlung eines der Leuchtfeuer des Neuen Glaubens in den westlichen Landen zu machen. Dabei stellte sie die Bedingung, die Abtei sollte eine Gedächtnisstätte für ihre Söhne werden.«
»Das erklärt manches«, überlegte Fidelma laut. »Das ganze Baugeschehen hier herum wird also nicht von der Abtei bezahlt, sondern von Lady Eithne auf Dún.«
»So ist es.«
»Was hat Donnchad bei seiner Rückkehr zu den Veränderungen gesagt?«, fragte Eadulf.
»Mir gegenüber hat er sich nicht dazu geäußert, aber er hat ja kaum mit mir gesprochen.«
»Weißt du, ob er sich sonst jemandem anvertraut hat?«
»Nein.«
»Aber du hast bemerkt, dass ihn irgendetwas beunruhigte. Könnte das mit den Vorgängen in der Abtei zusammenhängen?«, forschte Eadulf weiter.
»Mir ist nur eins aufgefallen: Von dem Augenblick an, als er durch das Tor hier einritt, war seine Miene finster wie eine Gewitterwolke.«
»Lag es vielleicht daran, dass sein Bruder Cathal sich entschlossenhatte, in Tarantum zu bleiben und das
pallium
als Bischof jener Stadt zu tragen?«, fragte Fidelma. »Immerhin standen sich die Brüder sehr nahe. Gemeinsam haben sie den Schritt getan, sich der Gemeinschaft anzuschließen, und gemeinsam haben sie die mühevolle Pilgerfahrt ins Heilige Land unternommen. Das ist gewiss nicht spurlos an Donnchad vorbeigegangen.«
Bruder Gáeth schob die Unterlippe vor, schien zu grübeln, schüttelte dann aber langsam den Kopf.
»In unserem letzten Gespräch hat er auch seinen Bruder verflucht – einen Narren hat er ihn genannt und noch schlimmere Ausdrücke benutzt.«
Diesmal konnte Fidelma nicht umhin, sich ihr Erstaunen anmerken zu lassen.
»Für alle ist Cathal ein Begnadeter, jeder verehrt ihn als einen Heiligen. Und du sagst, sein eigener Bruder hätte ihn einen Narren genannt und ihn verflucht? Warum das?«
»Ich kann nur wiederholen, was ich gehört habe«, erwiderte Bruder Gáeth halsstarrig. »Genau so hat er sich ausgedrückt.«
Fidelma lehnte sich zurück. »Du hast uns sehr geholfen, Bruder Gáeth. Vielen Dank dafür, dass du unsere Fragen beantwortet hast.«
Nachdem Bruder Gáeth das
refectorium
verlassen hatte, saßen Fidelma und Eadulf eine Weile stumm da.
»Bislang stand ich unter dem Eindruck, Bruder Gáeth sei einfältig und beschränkt, wofür ihn hier auch jeder hält«, brach Fidelma das Schweigen. »Jetzt bin ich überzeugt, er ist nicht weniger klug als manch anderer, nur gehemmt durch seine Lebensumstände.«
»Zurückgebliebene Menschen gibt es auf Erden mehr als genug«, befand Eadulf. »Denk doch nur mal an den Satz vonHoraz:
non cuivis homini contingit adire Corinthum
? Wörtlich heißt das, nicht jedem wird das Glück zuteil, Korinth zu sehen. In den Tagen des Horaz war das ein Ort voller weltlicher Vergnügungen, die sich nur wenige leisten konnten. Heutzutage besagt der Spruch: Wegen ihrer Lebensumstände können viele ihre Begabungen nicht entwickeln.«
»Und wie ist er in diese Lebensumstände hineingeraten?«
»Wie meinst du das?«
»Sein Vater war
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