Der Blutkelch
vor. »Er war schon unter Mo-Chuada hier, als die Abtei gegründet wurde. Leider ist er ein bisschen …«
Der Greis fiel ihm ins Wort und verkündete in geheimnisvollem Ton: »Ich habe einen Engel gesehen.«
Fidelma ging auf ihn ein und erwiderte ernsthaft: »Nicht jedem ist so ein Erlebnis beschieden. Da bist du in reichem Maße begnadet.«
Er stöhnte tief auf. »Ich habe einen Engel gesehen. Der Gesegnete Gottes flog durch den Himmel. Ich habe ihn gesehen.«
»Verzeih, Fidelma, ich wollte dich eigentlich nur mit Bruder Gáeth bekanntmachen«, warf der Abt ein. »Du bleibst hier, Bruder, und sprichst mit der
dálaigh
. Ich bringe den Ehrwürdigen Bróen zurück in sein
cubiculum
.« Damit nahm er den Alten am Arm und führte ihn langsam fort.
Sie hörten noch den Ehrwürdigen Bróen beleidigt jammern: »Ich hab den Engel gesehen. Wirklich. Er hat die Seele vom armen Bruder Donnchad geholt. Ich hab ihn fliegen sehen im Wind.«
Bruder Gáeth stand mit niedergeschlagenen Augen vor ihnen. Ausgerechnet er sollte der Seelenfreund eines hochgebildeten Gelehrten wie Bruder Donnchad gewesen sein? Den Eindruck machte er nicht auf Fidelma. Doch sofort dachte sie beschämt an die Zeile aus den
Satiren
des Juvenal,
fronti nulla fides,
urteile nicht nach dem Äußeren.
Fidelma wies zu dem Tisch, von dem sie eben erst aufgestanden waren. »Setz dich, Bruder«, forderte sie ihn auf und ließ sich selber nieder. Eadulf wartete noch, folgte dann ihrem Beispiel, während Bruder Gáeth langsam ans andere Ende des Tisches ging und sich auf die Bank setzte. Den Kopf hielt er weiterhin gesenkt.
»Tut mir leid, über Bruder Donnchads Tod kann ich überhaupt nichts sagen«, erklärte er ungefragt. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. »Tagelang hat er mit mir nicht geredet, hat sogar gesagt, ich soll ihm nicht mehr unter die Augen kommen.«
»Wann hast du zum letzten Mal mit ihm gesprochen?«
»Etwa zwei oder drei Tage vor seinem Tod.«
»Wie lange kanntet ihr euch?«
»Fünfundzwanzig Jahre«, kam es, ohne zu zögern.
»Das ist reichlich lange«, stellte Eadulf fest. Er hatte Bruder Gáeth auf ungefähr fünfunddreißig Jahre geschätzt.
»Ich war sein Seelenfreund … damals.«
»Erzähl uns von ihm«, ermutigte ihn Fidelma. »Zuerst aber erzähl uns etwas von dir selbst, und wie es kam, dass ihr euch begegnet seid.«
»Ich war ein Landarbeiter aus der Schicht der
daer-fudir
.«
Eadulf war verwundert, denn er wusste, dass ein
daerfudir
jemand war, der alle Rechte wegen eines schweren Verbrechens verloren hatte und mehr oder weniger wie ein Leibeigener arbeiten musste, um sein Ansehen wiederzuerlangen.Man hielt ihn für nicht vertrauenswürdig, er durfte keine Waffen tragen, auch hatte er keine Rechte innerhalb des Clans. In der dritten Generation verjährte das Urteil; der Betroffene erhielt seine Rechte zurück und konnte in jedes Amt in seinem Sippenverband gewählt werden. Doch meist war ein
daer-fudir
ein Fremder, unter Umständen ein Flüchtling von einem anderen Stamm, der um Asyl gebeten hatte. In der Regel gerieten Verbrecher oder in der Schlacht Gefangengenommene in eine derartige Knechtschaft.
»Mein Vater war es, der den Niedergang unserer Familie verschuldete«, murmelte Bruder Gáeth, ehe Fidelma oder Eadulf eine Frage stellen konnten.
»Erzähl, wie es dazu gekommen ist.«
»Da ist nicht viel zu erzählen. Mein Vater hat einen Stammesführer der Uí Liatháin erschlagen. Er floh mit meiner Mutter und mir und hat einen Fürsten der Déisi um Asyl ersucht, Eochaid auf An Dún hieß der …«
»Meinst du den Vater von Bruder Donnchad?«
Bruder Gáeth nickte. »Ich war noch ein kleines Kind. Eochaid hätte uns zum Abbüßen der Strafe zu den Uí Liatháin zurückschicken können, doch er entschied, meiner Familie auf seinem Grund und Boden Asyl zu gewähren, aber unter der Bedingung, dass wir wie
daer-fudir
für ihn schuften mussten. Mein Vater starb nach einigen Jahren schwerer Arbeit auf dem Acker. Bald danach auch meine Mutter. Auch Eochaid starb, und Lady Eithne übernahm die Gutsherrschaft. Sie war eine harte Herrin.«
»Jetzt aber gehörst du zu der Bruderschaft hier«, stellte Fidelma fest.
»Du willst wissen, wie ich in die Bruderschaft geraten bin und warum ich mich nicht mehr auf den Feldern von Lady Eithne auf An Dún abrackere?«
»Genau so ist es«, antwortete Fidelma.
»Donnchad hat sich dafür eingesetzt.«
»Wie ist ihm das gelungen?«
»Ich gehörte zwar zur Dienerschaft von
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