Der Blutkelch
aufbrachen?«
»Was soll passiert sein?«, fragte der Abt begriffsstutzig.
»Ich meine, wie hat Bruder Gáeth auf den Verlust seines Freundes Donnchad reagiert? Wie seid ihr mit Gáeth umgegangen, wenn er seine Wutanfälle bekam, bei denen er sich nur von Bruder Donnchad beruhigen ließ?«
»Ach, darauf willst du hinaus. Einige Schwierigkeiten hatten wir mit ihm. Er war launenhaft und vertraute sich niemandem an. Mitunter dachte ich sogar, er würde versuchen,aus der Gemeinschaft auszubrechen. Doch Gáeth hat ein gradliniges Gemüt und fühlt sich an die Tradition gebunden. Er kennt die Festlegungen im Gesetz und kam gar nicht auf den Gedanken, sich über die Bräuche hinwegzusetzen, mit denen er aufgewachsen ist.«
»Nimmst du wirklich an, er akzeptiert die einem
daerfudir
vom Gesetz auferlegten Verpflichtungen voll und ganz?«, fragte Eadulf ungläubig.
»Er weiß, welche Stelle in der Welt ihm zugedacht ist.«
Eadulf wollte sich ereifern, doch Fidelma warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Ich hätte noch gern gewusst, Abt Iarnla, warum dir so daran lag, dass wir mit Bruder Gáeth reden sollten?«, fragte sie.
»Ich wollte nur, dass ihr ihn möglichst bald trefft und mit ihm über die Vorkommnisse sprecht.«
»Die Gelegenheit hatten wir, doch was weiter?«, forderte ihn Fidelma ungeduldig auf, als er zögerte.
»Hat er erwähnt, wann er Bruder Donnchad zum letzten Mal gesehen hat?«
Fidelma spürte sofort, hinter der Frage steckte mehr. »Er hat uns gesagt, zwei oder drei Tage vor Donnchads Tod«, antwortete Eadulf.
»Dann hat er euch nicht die Wahrheit gesagt. Es war am Tag vor Bruder Donnchads Tod. Ich sah ihn aus Donnchads Zelle huschen. Bruder Lugna wollte den älteren unter den Brüdern neue Unterkünfte zuweisen, und ich sollte mich vergewissern, ob sie angemessen ausgestattet waren. Deshalb hielt ich mich in dem Gang auf, an dem Bruder Donnchads
cubiculum
lag. Genau genommen, ich war gerade in der Zelle nebenan, als ich mitbekam, dass sich seine Tür öffnete. Bruder Donnchad sagte: ›Ich verlasse mich auf dich,Gáeth.‹ Dann hörte ich, wie jemand hinaus auf den Gang trat.«
»Hat Bruder Gáeth etwas erwidert?«, fragte Eadulf.
»Ja, er sagte: ›Ich werde es zum Ort der Toten schaffen. Sei unbesorgt, es soll so geschehen, wie du es willst.‹ Gleich darauf wurde die Tür zugemacht und der Schlüssel im Schloss gedreht.«
»Ich werde es zum Ort der Toten schaffen?«, wiederholte Fidelma. »Bist du hinausgegangen und hast Bruder Gáeth zur Rede gestellt?«
Der Abt schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte gehört, wie Bruder Donnchad die Tür schloss und Gáeth an der Zelle vorbeiging, in der ich mich befand. Ich habe ihm durch den Türspalt nachgeschaut. Er eilte zur Treppe. Daraufhin bin ich zum Fenster gegangen, von dem man den Innenhof überblickt, habe mich hinausgelehnt und gesehen, wie er aus dem Gebäude kam. Er steckte etwas unter den Umhang, den er über der Kutte trug.«
»Was mag das Etwas gewesen sein?«
Abt Iarnla zuckte die Achseln. »Es hätte alles Mögliche sein können. Ich hatte den Eindruck, es war eine Schriftrolle.«
»Eine Schriftrolle? Welcher Art?«
»Möglicherweise eine aus Pergament.«
»Schade, dass du uns das nicht erzählt hast, bevor wir mit ihm geredet haben. Vielleicht hätte ich ihm darüber mehr entlocken können«, äußerte sich Fidelma mit leichtem Vorwurf.
»Ich hatte gehofft, er würde es von selber zur Sprache bringen und müsste nicht erst deswegen befragt werden. Jedenfalls ist sicher, wenn Bruder Donnchad seinem ehemaligen Freund etwas Wertvolles anvertraute, muss dieFreundschaft zwischen ihnen nicht ganz erkaltet gewesen sein.«
»Das mag sich wohl so verhalten«, erwiderte Fidelma. »Wo aber ist dieser Ort der Toten? War es ein Friedhof, den Gáeth meinte, ein
relec
, oder ein
otharlige
, ein irgendwie gearteter Sarkophag? Das genaue, von ihm benutzte Wort könnte ein Hinweis darauf sein, wo er den ihm von Donnchad übergebenen Gegenstand verstecken wollte.«
Der Abt zeigte sich überrascht. »Du hast recht, Fidelma. Daran habe ich nicht gedacht. Gáeth hat ein für mich ungewöhnliches Wort gebraucht –
dindgna
hat er gesagt.«
»Das ist ein Hügel, eine kleine Erhebung«, erläuterte Fidelma. »Ein Totenhügel? Sagt dir das etwas?«
»Eigentlich nicht. Unsere Begräbnisstätte befindet sich ganz in der Nähe. Dort ist auch Bruder Donnchad beigesetzt worden. Eine von Bäumen umstandene flache Lichtung im Osten. Unsere Kapelle wurde
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