Der Blutkelch
erhalten?«
»Es sind schon viel schrecklichere Dinge geschehen«, entgegnete sie ruhig. »Aber es scheint auch mir eher unwahrscheinlich, denn wenn es an dem wäre, würde sich Bruder Lugna weniger auffällig gebärden, als er es tut. Trotzdem, gänzlich verwerfen würde ich den Gedanken nicht.«
»Früher war das hier ein Hort der Eintracht, selbst in den späteren Tagen mit Maolochtair, als der alte Stammesfürst senil geworden war und sich von allen Seiten bedroht fühlte. Heute gehe ich durch die Abtei, sehe all die neuen Gebäude aus Stein entstehen und habe das Gefühl, es ist ein dunkler, böser und bedrohlicher Ort geworden.«
Fidelma beugte sich vor und legte mitfühlend eine Hand auf seinen Arm.
»Wir werden des Bösen Herr werden, Abt Iarnla.
Dabit Deus his quoque finem
– Gott wird auch diesem Übel ein Ende bereiten. Da bin ich ganz sicher. Bruder Lugna hat mir gegenüber probiert, wie weit er gehen kann, und hat gemerkt, dass ich nicht wanke. Ich glaube nicht, dass er sich mir in den nächsten Tagen in den Weg stellen wird. Mach dir also keine Sorgen um mich. Ich werde ihn nicht aus den Augen lassen. Über Lady Eithne aber muss ich einiges mehr wissen, ich will sie noch einmal über Bruder Donnchad befragen. Morgen werden Eadulf und ich in Begleitung von Gormán deshalb zu ihrer Burg reiten, um mit ihr zu sprechen.«
Der Abt erhob sich und nahm seine Laterne.
»Unser Gespräch bleibt doch aber unter uns, ja?«
»Sei unbesorgt. Weder Bruder Lugna noch Lady Eithne werden etwas davon erfahren. Eadulf aber muss ich ins Vertrauen ziehen. Bis zum Ende unserer Nachforschungen werden wir Stillschweigen bewahren, allerdings gebietet es meine Pflicht, danach auch meinen Bruder und Abt Ségdae von der Situation hier in Kenntnis zu setzen.«
Abt Iarnla sah plötzlich unsäglich alt aus.
»Hab Dank, Fidelma. Ich spreche es ungern aus, aber es scheint eine glückliche Fügung, dass Bruder Donnchads Tod dich nach Lios Mór gebracht hat, sodass du helfen kannst, die Abtei wieder zu dem zu machen, was sie einst war, auf dass die Gemeinschaft wieder in Glück und Frieden leben kann.«
»Das mit der glücklichen Fügung sollten wir vergessen«, erwiderte Fidelma. »Da fällt mir noch etwas ein: gehe ich in der Annahme fehl, dass es Bruder Lugna war, der Glassán hierhergeholt hat? Ist dir etwas darüber bekannt, wo der Baumeister vorher gearbeitet hat?«
»Soviel ich mitbekommen habe, hat Lady Eithne ihn empfohlen. Zum anderen unterstützt sie alles, was Bruder Lugna tut oder vorschlägt. Wieso, stimmt etwas nicht?«
»Nichts, was schon spruchreif wäre.« Sie stand auf, begab sich zur Tür, öffnete sie leise und spähte hinaus. Im Gang war es dunkel und still. Niemand schien in der Nähe. Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ den Abt an sich vorbei, der, vorsichtig die Laterne haltend, aus dem Raum ging. Nur einen kurzen Moment stand Fidelma im Dunkeln, dann kam der Mond hinter einer Wolke hervor und schickte sein Licht in die Kammer. Sie schloss die Tür und fand den Weg zu ihrem Bett.
Sie griff das Kleiderbündel, legte es wieder auf den Stuhl und setzte sich auf das Bett. Lange saß sie so da und ließ sich noch einmal alles, was der Abt gesagt hatte, durch den Kopf gehen. Ohne dass sie es merkte, übermannte sie der Schlaf, und als sie wieder zu sich kam, war es nicht länger das blassblaue Licht des Monds, das durch das Fenster schien, sondern das der aufgehenden Sonne.
KAPITEL 13
An Dún, die Burg von Lady Eithne, lag keine zwei Meilen östlich von Lios Mór. Sie thronte auf einer Anhöhe, sodass man von dort die Straße von Cashel, die am Fuße der Burg den An Abhainn Mór, den Großen Fluss, überquerte, gut überblicken konnte. Erbaut worden war die Burg vor langer Zeit, eigens um die Straße zu überwachen. Fidelma war viele Male dort vorbeigekommen, hatte aber nie haltgemacht. Sie hatte bislang nur gewusst, dass Lady Eithne eine sehr fromme Frau und eifrige Verfechterin des Neuen Glaubens war, Mutter von zwei Söhnen, die sich in Lios Mór als Gelehrte einen Ruf erworben hatten. Von Lios Mór kommend, führte die Straße an einer nördlich gelegenen Hügelkette vorbei durch zur Abtei gehörende Felder. Hoch waren die Hügel nicht, eigentlich nur kleine Erhebungen. Das beherrschende Element in der Landschaft war die mächtige Burg aus Holz und Stein.
Als sie sich ihr näherten, machte Gormán, der hinter ihnen ritt, Fidelma auf die dunklen Schatten von Wachposten auf den Burgmauern
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