Der Blutrichter
gnädig.«
Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das helle Licht. Er sah zahllose Gesichter, die seltsam fern schienen. Ihre Lippen bewegten sich, aber er vernahm keine einzelnen Stimmen mehr, sondern nur noch ein Brausen und Rauschen, ein maßloses Durcheinander. Die Menschen lachten und johlten, sie klatschten Beifall oder zeigten ihm die Faust, so als wären sie persönlich von ihm beleidigt oder bei einem Verbrechen verletzt worden. Mitgefühl entdeckte er in keinem Gesicht. Eher Schadenfreude und Sensationsgier. Kinder liefen neben dem Karren her, und einige bespuckten ihn. Einer führte ein hölzernes Schwert mit sich, das er durch die Luft wirbeln ließ, um es sich dann lachend über die Kehle zu ziehen, um damit das Köpfen nachzuäffen.
Hinrik verlor das Empfinden für die Zeit, und während er die Augen schloss, um sich in ein Gebet zu vertiefen, kehrte innere Ruhe ein. Der Lärm um ihn herum berührte ihn nicht mehr. Er schien in einer anderen Welt zu verhallen.
Hinrik erinnerte sich an seine Jahre im Kloster und an seine vielen Gespräche mit dem kurzsichtigen Mönch Franz, der ihm unendlich viel beigebracht und mit dem er häufig über den Sinn des Lebens gesprochen hatte. Er wähnte sich wieder in der Stille des Klosters, in dem jedes Wort einen Widerhall erfuhr. Jedes Wort schien zu den gebogenen Decken der Kreuzgänge aufzusteigen, um von dort zurückzukehren, als wollte es sich dadurch besonderes Gewicht verleihen.
Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als der Karren hielt und ihm einer der Wächter einen Stoß versetzte, der |271| ihn von dem Fahrzeug herunterwarf. Schnaubend zog das Pferd den Karren weiter, heraus aus dem Kreis der in den Boden versenkten Pfähle, die eine etwa fünf Fuß hohe Palisade bildeten. Dahinter standen dicht an dicht gedrängt die Zuschauer. Auf einer Tribüne saßen Wilham von Cronen, einige andere Ratsherrn und ein Priester. Einen der Herren neben von Cronen kannte er. Es war Jacob Lubbe. Er hatte ihn oft im Hafen gesehen. In der Mitte des Kreises erhob sich die riesige Gestalt des Henkers, der seinen Kopf unter einer schwarzen Kapuze verbarg, die mit Schlitzen für Augen und Mund versehen war.
Breitbeinig stand er da, stützte seine Hände auf das Schwert, das er sorgfältig geschärft und poliert hatte, so dass es in der Sonne blitzte. Flankiert wurde er von vier Wächtern, die mit Dolchen und Lanzen mit scharf geschliffenen Spitzen bewaffnet waren.
Wilham von Cronen erhob sich. Mit energischer Geste befahl er Ruhe.
»Schalck – du bist verurteilt wegen schwerer Verbrechen, bei denen du ehrbare Bürger überfallen und lebensgefährlich verletzt hast. Das Gericht hat dich für schuldig befunden. Du wirst durch das Schwert sterben. Henker, walte deines Amtes!«
»Nein!«, schrie Schalck. »Bitte nicht. Ich flehe Euch an, Herr. Ich habe es aus Hunger und Verzweiflung getan. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Wie hätte ich meine Kinder ernähren sollen?«
Die Wachen packten ihn und befahlen ihm, sich vor dem Henker hinzuknien. Als er sich weigerte, rammte ihm einer der Wachmänner ein Knie in den Oberschenkel. Die Wirkung war verblüffend. Schlagartig verlor Schalck die Kontrolle über seine Beine und stürzte auf die Knie. Ängstlich drückte er seinen Kopf auf den Boden. Hinrik sah, dass er am ganzen Körper zitterte.
|272| Ein wenig hinkend trat der Henker vor, packte Schalcks Haar und schnitt es im Nacken mit einer Schere ab. Sein Opfer bettelte unaufhörlich um sein Leben. Er versprach, den Schaden wieder gutzumachen, den er angerichtet hatte. Vergeblich. Er fand keine Gnade.
Als der Henker das Schwert hob, wurde es still. Hinrik sah, wie das Schwert herabfuhr und Schalcks Hals durchtrennte. Blut schoss in einem breiten Schwall aus dem nach vorn fallenden Körper, und der Kopf rollte auf ihn zu, um dicht vor ihm liegen zu bleiben. Die weit aufgerissenen Augen des Toten schienen ihn anzustarren.
Die Zuschauer applaudierten und schrien. Einige lobten den Henker ob seiner Arbeit.
Wilham von Cronen erhob sich erneut.
»Berent – du bist verurteilt wegen schwerer Verbrechen, Betrug, Diebstahl und Mord. Das Gericht hat dich für schuldig befunden. Du wirst durch das Schwert sterben. Henker, walte deines Amtes!«
Der kahlköpfige Berent richtete sich auf. In seinen Augen war keinerlei Furcht.
»Auf geht’s, Henker«, sagte er grinsend. »Ich bin froh, dass ich nun keine Schmerzen mehr haben muss. Jedenfalls brauchst du bei mir keine Haare
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