Der Blutrichter
war, ihn zu vernichten. Der Däne wollte unbedingt verhindern, dass in der Stadt bekannt wurde, wer sich unter der Henkerskapuze verbarg.
Hinrik war müde, und er hätte am liebsten geschlafen. Aber die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß.
|289| Die Möwe
Greetje fuhr erschrocken zusammen, als es neben ihr polterte und unmittelbar darauf ein Eisenriegel klirrte. Für kurze Zeit war sie eingenickt, und nun wusste sie nicht, wo sie war. Das Glucksen und Rauschen des Wassers am Bug des Schiffes und die muffige Luft, die sie umgab, machten es ihr sehr schnell wieder bewusst. Neben ihr öffnete sich eine Luke, und ein wenig Licht fiel herein. Sie erkannte die Umrisse eines Mannes.
»Komm heraus«, befahl eine heisere Stimme. »Nun mach schon. Ich habe nicht ewig Zeit.«
Zögernd gehorchte sie, kletterte durch die Luke und bereitete sich darauf vor, von dem Mann angefasst zu werden. Sie war entschlossen, ihm mit den Fingernägeln ins Gesicht zu fahren, sollte er es wagen. Doch er trat zur Seite und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie die Treppe hinaufsteigen sollte.
»Was habt ihr mit mir vor?«, fragte sie bang.
»Halt’s Maul«, fuhr er sie grob an. »Und sieh zu, dass du endlich nach oben kommst.«
Sie stieg hastig die Treppe hinauf. Durch eine Luke ging es hinaus an Deck des sich sanft in den Wellen wiegenden Schiffes. Eine frische Brise schlug ihr ins Gesicht. Nach dem langen Aufenthalt in der Dunkelheit gewöhnten sich ihre Augen nur langsam an das Licht. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie über die Bordkante. Am Horizont entdeckte sie Land. Ansonsten war um sie herum nur Wasser – und ein Schiff, das kleiner war als eine |290| Kogge. Es musste eine Schnigge sein. Eine seltsame Fahne flatterte am Mast. Ein weißes Tuch mit einem schwarzen Stierkopf.
Ein Piratenschiff!
Während sie sich noch zu orientieren suchte, führte man sie über Deck zu einem Abgang und hob sie in ein Ruderboot hinunter. Kraftlos sank sie auf eine Bank. Zwei bärtige Männer stießen das Boot ab und griffen nach den Riemen. Sie war froh, dass sich das Boot schnell von der Kogge entfernte und sie die Beleidigungen und Verunglimpfungen nicht mehr hören konnte, mit denen die Männer an Bord sie bedacht hatten. Sie drehte ihren Peinigern den Rücken zu und blickte zu dem Schiff hinüber, dem sie sich nun rasch näherten.
MÖWE stand in großen Lettern am Bug.
Sie hatte von diesem Schiff gehört. Es war tatsächlich eine Schnigge. Die schnellste weit und breit. Und Störtebeker führte das Kommando.
Lange hielt Hinrik durch, aber irgendwann schlief er dann doch ein. Er wachte erst wieder auf, als er Stimmen vernahm.
»Da war etwas«, rief jemand. »Irgendwer schnarcht.«
»Ach, du träumst«, erwiderte ein anderer. »Zwischen den Säcken ist kein Platz. Hier schläft niemand.«
Lautlos schlich Hinrik sich aus seinem Versteck hinaus. Durch ein offenes Fenster glitt er auf das Dach eines kleinen Hauses und stahl sich durch die Dunkelheit davon. Es war spät geworden, und in den Gassen der Stadt war es ruhig. Nur hin und wieder waren die Stimmen von Zechern zu hören, die nach Hause wankten.
Das Mondlicht erhellte die Gassen, und es war nicht leicht für Hinrik, sich dem Schollenhaus von Mutter Potsaksch |291| zu nähern. Hinrik fragte sich, ob Thore Hansen wusste, wo er Quartier bezogen hatte. In sicherer Deckung wartete er ab und beobachtete das Haus. Plötzlich zündete jemand im Inneren ein Licht an, und für einen kurzen Moment war ein Mann zu sehen.
Hinrik zog sich zurück und eilte zum Haus Greetjes, entdeckte aber schon bald, dass man auch hier auf ihn wartete. Die Fallen waren gestellt. Er wich zurück und tauchte ins Dunkel, um sein Glück am Hafen und in der Nähe der Kneipen zu suchen, die es dort gab. Nachdem die halbe Nacht verstrichen war und er schon aufgeben wollte, kam Gromann aus dem »Goldenen Anker«. Als Hinrik ihn am Ärmel packte und zu sich in eine Nische zog, fuhr er erschrocken zusammen.
»Keine Angst, Gromann«, wisperte der Ritter. »Ich bin es. Vom Diek. Ich habe nicht vor, Euch was zu tun. Bitte, seid still.«
»Bin ich«, antwortete der Händler. »Wieso treibt Ihr Euch hier draußen herum, anstatt wie ein anständiger Mann in der Kneipe zu sitzen und sich zu besaufen?«
Hinrik lachte leise. »Ich weiß nicht, ob sich anständige Leute in Kneipen besaufen müssen. Ich bin froh, dass ich meinen Kopf noch auf den Schultern habe. Viel hat nicht gefehlt, und er wäre
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