Der Blutrichter
auf dem Boden lag, passte nicht ins friedliche Bild. Ebenso beunruhigten die Hausschuhe, von denen einer ordentlich neben dem Bett stand, so dass Greetje sofort hineinsteigen konnte, während der andere weit davon entfernt am Schrank lehnte, als wäre er zur Seite geschleudert worden. Und ein paar Schrammen in den Dielen neben der Tür ließen auf schwere Männerstiefel schließen.
Hinrik hastete die Treppe hinunter. Er brauchte nicht länger zu suchen. Er wusste, dass Greetje nicht mehr im |286| Haus war, und war sich sicher, dass sie es nicht freiwillig verlassen hatte. Er machte sich heftige Vorwürfe, dass er sie allein gelassen hatte. Besser wäre es gewesen, Hans nicht nach Itzehoe zu begleiten oder Greetje mitzunehmen, um sie beschützen zu können.
Als er durch die Haustür hinaustrat auf die Gasse, wartete Thore Hansen auf ihn. Der Däne trug wieder seinen dunklen Wams und die eng anliegenden Hosen mit den gelben und schwarzen Streifen. Nichts an ihm verriet, dass er der geheimnisvolle Henker der Hansestadt war. Hansen hob einen Arm und schrie so laut, dass man ihn weithin hören konnte: »Einbrecher! Dieb! Haltet ihn! Er hat Greetje Barg bestohlen!«
Mehrere Männer und Frauen, die sich in der Nähe aufhielten, wandten sich ihm zu. Und augenblicklich kamen zwei mit Lanzen bewaffnete Ordnungshüter herbeigelaufen, um Hinrik zu überrumpeln. Dieser zögerte keinen Wimpernschlag und flüchtete. Ihm war klar, dass mit den Wachleuten nicht zu reden war. Sie würden ihm nicht glauben, dass seine innige Verbindung zu Greetje ihm ein gewisses Recht verlieh, das Haus zu betreten. Sie würden ihn verhaften und in den Kerker werfen – danach würde Richter von Cronen Fragen stellen. Ganz gleich wie die Antworten ausfielen, er würde ihn erneut zum Tode verurteilen.
Sicherlich haben sie darauf gewartet, dass ich hier auftauche, dachte er, während er durch die Gassen rannte. Er war deutlich schneller als die Wachmänner, von Thore Hansen gar nicht erst zu reden. Als er zurückblickte, stellte er fest, dass der Däne nicht einmal versuchte, ihm zu folgen. Aber er wäre leichter entkommen, wenn der Ruf »Haltet den Dieb!« ihn nicht schließlich überholt hätte, so dass er sich einigen Männern gegenübersah, die entschlossen waren, ihn aufzuhalten.
|287| Doch Hinrik kannte sich aus in den engen und verwinkelten Gassen. Oft genug hatte er Fluchtwege ausgekundschaftet, hatte sich Toreinfahrten und Hinterhöfe angesehen, Lagerhäuser inspiziert und Verstecke gesucht. Außerdem war er ein Kämpfer, der es schon mit ganz anderen Gegnern zu tun gehabt hatte. Er stieß die Männer zur Seite, die ihm den Weg versperren wollten, stürmte durch einen Gang zwischen zwei Lagerhäusern, der so schmal war, dass er sich seitlich bewegen musste, durchquerte eine verlassene Werkstatt, hastete eine Treppe hinauf, eilte geduckt über ein Dach und rettete sich durch ein Fenster in ein Lagerhaus, das mit Fässern, Säcken und Warenballen bis unters Dach gefüllt war. Er schlüpfte zwischen zwei Stoffballen und war in Sicherheit. Er hörte, dass man draußen in den Gassen nach ihm suchte, denn die Wachmänner verständigten sich mit lauten Rufen. Beruhigt lehnte er sich zurück. Die Stimmen entfernten sich allmählich, und es wurde still um ihn. Irgendwo unten im Lagerhaus wurde gearbeitet.
Endlich hatte er Zeit zum Nachdenken.
Um sich selbst machte er sich keine Sorgen. Seine Gedanken galten Greetje. Dass von Cronen mit ihrem Verschwinden zu tun hatte, stand für ihn außer Frage. Es war ein Fehler gewesen, sich sicher zu fühlen. Ein Mann wie der Richter nahm eine Niederlage nicht so ohne weiteres hin. Er hatte eine Menge zu verlieren. Eine öffentliche Herabsetzung war überaus schmerzlich für ihn und bedrohte seine bis dahin unangefochtene Stellung in der Hansestadt. Es war unverzeihlich, davon auszugehen, dass er eine gewisse Zeit verstreichen lassen würde, bevor er zum Gegenschlag ausholte. Jetzt mussten Hinrik und Greetje einen hohen Preis für ihre Arglosigkeit bezahlen.
Hinrik beschloss, zu Mutter Potsaksch zu gehen, sobald es dunkel geworden war. Möglicherweise wusste sie etwas |288| von Greetje. Danach musste er aus Hamburg verschwinden. Seine Situation hatte sich verschlechtert. Kaum dem Henker entkommen, war sein Leben erneut bedroht, und dieses Mal konnte Greetje ihm nicht helfen. Wenn von Cronen seiner habhaft wurde, würde er kurzen Prozess machen.
Außerdem stand außer Frage, dass Thore Hansen entschlossen
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