Der Blutrichter
geräuschlos wie möglich tauchte er wieder auf. Sein Blick ging zur Brücke hinauf. Ein einzelner Wachmann stand dort über das Brückengeländer gelehnt und suchte das Wasser unter sich ab.
Eine hinkende Gestalt näherte sich ihm. Hinrik war sicher, dass es Thore Hansen war. Der Henker trat von hinten an den Wachmann heran, legte ihm rasch den Arm um den Kopf und riss ihn zurück. Ein Messer blitzte auf und fuhr dem Mann über den Hals. »Mein Gott, hierher!«, rief der Däne, nachdem er den Sterbenden hatte fallen lassen. »Der Ritter aus Itzehoe hat einen Wachmann getötet! Hierher. Schnell. Kommt. Er muss irgendwo in der Nähe sein. Mörder! Der Mann ist ein Mörder. Helft mir!«
Die Stimme verriet ihn. Es war Thore Hansen. Entsetzt und außer sich vor Zorn löste Hinrik das Tau, mit dem der Kahn am Ufer befestigt war. Er konnte nichts tun. Er konnte sich nicht verteidigen, und er konnte nicht beweisen, dass Thore Hansen der Mörder war. Niemand würde ihm glauben.
Er hielt sich an dem Kahn fest, der langsam das Fleet hinuntertrieb, während sich auf der Brücke immer mehr Männer einfanden. Viele von ihnen trugen Fackeln und suchten nach ihm.
Als er weit genug entfernt war, so dass sie ihn nicht |295| mehr sehen konnten, zog er sich ins Boot und ruderte auf die Alster hinaus, ließ sich von der Strömung treiben und glitt wenig später in die Elbe hinein. Im Morgengrauen erreichte er eine der Inseln, die mitten im Strom lagen. Er lenkte den Kahn in einen schmalen Wasserlauf hinein, der unter überhängenden Zweigen verborgen war, und stieg aus. Noch fühlte er sich nicht sicher. Er suchte die Insel ab und war erst beruhigt, als er sich überzeugt hatte, dass er allein war.
Im Dickicht verborgen ließ er sich ins Gras sinken und blickte auf den Strom hinaus. Von Hamburg her näherte sich eine Flotte von sieben Koggen. Er konnte die angeworbenen Männer an der Reling stehen sehen. Sie brachen auf, um die Jagd auf Störtebeker und die anderen Freibeuter zu eröffnen.
Langsam und vorsichtig zog sich Hinrik vom Diek weiter ins Dickicht zurück, um auf keinen Fall entdeckt zu werden. Er fragte sich, wie es weitergehen sollte. Zunächst hatte er geplant, sich Störtebeker anzuschließen, nun war er nicht mehr sicher, ob es ratsam war, diesen Plan weiter zu verfolgen. Die »Pfeffersäcke« der Hansestadt wehrten sich gegen die Überfälle. Es konnte sein, dass die Glocken der Stadt Hamburg das Ende für die Freibeuter einläuteten.
Die vergangenen Stunden waren kalt und unangenehm gewesen, aber er hatte nicht gewagt, ein Feuer anzuzünden, um sich zu wärmen. Es hätte ihn verraten und Neugierige angelockt. Nun breitete er seine Kleider in der Sonne aus und beschloss, so lange zu warten, bis sie trocken waren. Erst dann wollte er sich wieder auf den Strom hinauswagen.
Seine Situation war nahezu aussichtslos, auch wenn er |296| seinen Häschern entkommen war. Der Arm Wilham von Cronens reichte weit. Vielleicht boten ihm tatsächlich nur die Freibeuter einen Ausweg, doch sie zu finden war nicht leicht.
Er erwog, nach Mecklenburg zu gehen oder in Richtung Süden. Einfacher würde es nirgendwo für ihn werden. Immerhin hätte er in Städten wie Ansbach, Schwäbisch-Hall, Köln oder Regensburg die Möglichkeit, als Ritter aufzutreten. Dafür allerdings wären eine neue Rüstung und ein Pferd vonnöten. Dazu ein Schwert. Sein bewährtes und wertvolles Schwert hatte er auf dem Hof in Itzehoe zurücklassen müssen.
Als seine Sachen trocken waren, kleidete er sich an, stieg in das Boot und ruderte auf die Elbe hinaus, bis die Strömung ihn erfasste. So weit er sehen konnte, befanden sich auf dem Strom nur zwei Fischerboote, die sich jedoch weitab von ihm unter Ufer bewegten. Als er Stunden später eine Kogge ausmachte, die aus Hamburg kam, ruderte er zum Ufer und zog sich in einen der vielen Seitenarme zurück, die es im Unterlauf der Elbe gab. Mittlerweile war die Tide gekentert, und die Strömung kehrte sich um. Sie führte nun stromaufwärts. Er vertäute das Boot am Ufer, verließ es und legte sich, durch Schilf und Büsche geschützt, nieder, um zu schlafen.
Er dachte an Greetje und fragte sich, wo sie wohl sein mochte und ob er sie je wiedersehen würde. Er faltete die Hände, um zu beten und Gott für seine Rettung zu danken, er bat ihn aber auch um Hilfe und flehte ihn an, ihm einen Hinweis darauf zu geben, wo Greetje war und wie er ihr helfen konnte. Die Müdigkeit übermannte ihn, und er schlief ein.
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