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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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sich zu streiten. Sie musste schnell und entschlossen handeln, um so viele |450| Männer wie möglich zu retten. Jede Verzögerung kostete Menschenleben.
    Für die Seeschlacht, die vor Helgoland ausgetragen wurde, hatte Greetje keine Augen mehr, und sie machte sich keine Gedanken darüber, wer siegen würde. Nur einmal kam ihr der Gedanke, dass Hinrik glücklicherweise weit von Helgoland entfernt war. Sie war froh darüber, dass er dem bronzenen Ritter auf der Spur war, denn sie war fest davon überzeugt, dass sein Leben bei dieser Jagd bei weitem nicht so gefährdet war wie das jener Männer auf den Schiffen.
    Inga erwies sich als erstaunlich geschickt. Zupackend und energisch, wie es ihre Art war, versorgte sie die Wunden und nahm sich noch die Zeit, Greetje zuzuschauen.
    »Ihr macht Eure Sache gut«, lobte sie die junge Frau. »Vielleicht habt Ihr recht mit den sauberen Verbänden. Hein Schwan ist anderer Ansicht als Ihr. Er sagt, es spielt keine Rolle, wie die Verbände aussehen. Es kommt darauf an, die Blutungen zu stillen und die Wunden zu schließen. Alles weitere müssen Gott oder die Natur erledigen. Es könnte sein, dass Ihr der Natur ein bisschen auf die Sprünge helft.«
    »Genau so ist es«, bestätigte Greetje. Mit blutverschmierten Händen richtete sie sich auf, nachdem sie einem der Männer einen gebrochenen Arm geschient hatte. Sie winkte einige der Inselbewohner heran und bat sie, ihr noch mehr Verbandsmaterial zu bringen und vor allem für frisches Wasser zu sorgen.
    Stunden vergingen, und immer wieder wurden Verwundete und Sterbende an Land gebracht. Dabei wurden Greetje und Inga zu Amputationen von Armen oder Beinen gezwungen, wenn die Verletzungen zu schwer waren. Beide hätten gern auf diesen Teil der Arbeit verzichtet. Jedes Mal benötigten sie die Hilfe kräftiger Männer, die die |451| Verletzten festhalten mussten. Bei den ersten Amputationen wäre Greetje unter dem Eindruck der Schmerzensschreie beinahe zusammengebrochen, doch allmählich schien sich ihr Gehör dem Geschehen zu verschließen, so dass sie die grässliche Arbeit relativ ruhig bewältigen konnte.
    Die Schlacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Als sich die Sonne dem Horizont entgegenneigte, zogen sich die Likedeeler in Richtung Helgoland zurück und lockten die Hanseaten an, und wiederum gelang es ihnen, einige ihrer Gegner auf die Sandbänke zu bugsieren, wo sie hilflos liegenblieben.
    Als es dunkelte, entzündeten die Helgoländer angespültes Holz am Strand, so dass der Arzt und die beiden Frauen genügend Licht hatten und weiterarbeiten konnten. Draußen auf See endete der Kampf. Die Schiffe der Hanse zogen sich zurück.
    Irgendwann am späten Abend war auch das letzte Opfer der Seeschlacht versorgt. Greetje ging bis zu den Knien ins Wasser und wusch sich die blutverschmierten Hände und Arme ab. Inga kam zu ihr. Sie sah alt und unendlich erschöpft aus.
    »Ich glaube, ich kann nicht mehr«, sagte sie.
    Greetje legte ihr den Arm um die Schulter und kehrte mit ihr an den Strand zurück. Gemeinsam stiegen sie die Klippen hoch, und plötzlich löste sich die ungeheure Anspannung, unter der sie beinahe den ganzen Tag gestanden hatten. Sie blieben stehen, umarmten einander und begannen hemmungslos zu weinen.
    Derart schreckliche Bilder, wie sie ihnen dieser Tag aufgezwungen hatte, waren für beide neu, und keine hatte bisher eine Vorstellung von den grauenhaften Folgen eines solchen Kampfes auf See gehabt.
    »Ich will nicht weinen«, stammelte Inga. »Nicht hier |452| draußen, wo uns alle sehen können. Lasst uns ins Haus gehen.«
    Greetje stieg die Treppe hinauf zu ihrer Kammer und sank gleich darauf vollkommen entkräftet ins Bett. Sie dachte, sie würde gleich einschlafen, doch das war nicht der Fall. Ruhelos wälzte sie sich hin und her, die schrecklichen Bilder wollten nicht weichen. Immer wieder sah sie aufgeschlitzte Bäuche, zertrümmerte Knochen und klaffende, heftig blutende Wunden, vernahm sie die Schreie und Klagen der Verwundeten und hatte den Geruch von Blut und Brandwunden in der Nase.
    Erst als sie an ihren geliebten Hinrik dachte und Gott dafür dankte, dass er bei dieser Schlacht nicht dabei gewesen war, entspannte sie sich und glitt allmählich in den Schlaf.
    Am nächsten Morgen wachte sie spät auf. Sie war müde und fühlte sich wie erschlagen. Am liebsten wäre sie noch im Bett geblieben. Eine innere Unruhe aber trieb sie hoch. Sie wollte wissen, ob die Flotte der Hanse erneut angriff oder ob die

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