Der Blutrichter
Hör zu! Rei publicae interest, ne crimina remaneant impunica! Dem Gemeinwesen liegt daran, dass Verbrechen nicht ungestraft bleiben.«
»Verbrechen?«, stammelte der Arzt. »Ich habe kein Verbrechen begangen.«
»Du hast eine Frau beschuldigt, eine Hexe zu sein, obwohl sie vielen Menschen das Leben gerettet hat. Eine solche Anklage kann den Tod zur Folge haben. Wir haben es also mit einer ernsten Angelegenheit zu tun, die wir klären müssen.«
Hein Schwan wollte etwas entgegnen, doch der Vertreter der Kirche ließ sich nicht erweichen. Einige der Männer schichteten Holz auf und entzündeten es. Einer der Likedeeler nahm ein Stück Eisen mit einer Zange auf und hielt es ins Feuer, bis es zu glühen begann.
Greetje wandte sich ab. Sie ertrug die hasserfüllten Blicke nicht mehr, mit denen Hein Schwan sie bedachte, und sie wollte die Vorbereitungen für die Prüfung nicht sehen, die aller Wahrscheinlichkeit nach schwere Verbrennungen zur Folge haben würde. Als gläubige Christin war sie keineswegs sicher, dass ein Gottesurteil gegen Hein Schwan erfolgen würde, als Heilkundige dagegen war sie darauf vorbereitet, dass der Inselarzt äußerst schmerzhafte Verletzungen davontrug. Sie hatte von keinem Gottesurteil gehört, das zu Gunsten des Angeklagten |480| ausgefallen war. Dennoch wollte sie nicht ausschließen, dass es so etwas gab. Gott war allmächtig. Er hatte die Kraft und die Möglichkeit, Wunder geschehen zu lassen, und wenn er einen Unschuldigen schützen wollte, würde er es tun.
Ein anderer Gedanke aber quälte sie viel mehr als die Frage nach dem Ausgang der Prozedur. Was auch immer geschah – sie machte sich schuldig. Abtrünnige hatten sie gerettet. Heidnische Götzenanbeter. Was wurde aus ihr, falls Hein Schwan Verbrennungen davontrug, die nicht so schnell heilten? Dann galt sie als unschuldig, machte sich aber einer schweren Sünde schuldig, indem sie der Kirche verschwieg, dass Inga und Kort Heiden waren.
Eine innere Stimme befahl ihr zu reden, bevor die Prüfung begann. Aber sie konnte nicht. Ihre Lippen blieben verschlossen. So zuckte sie wie von einem Peitschenhieb getroffen zusammen, als Hein Schwan zu schreien begann. Die Stimme des Arztes war schrill, und sie kündete von schrecklichen Qualen. Der Gestank verbrannten Fleisches stieg ihr in die Nase. Ihr kam es vor, als wäre dieser entsetzliche Gestank direkt aus der Hölle aufgestiegen.
»Trag das Eisen zur Treppe!«, befahl der Priester. Obwohl er seine Stimme erhob, war er kaum in der Lage, den Arzt zu übertönen.
Greetje wollte sich die Ohren zuhalten. Sie meinte, die Schreie nicht ertragen zu können. Als sie die Hände zum Kopf hob, verstummte Hein Schwan plötzlich. Verstört drehte sie sich um. Sie sah, dass der grobschlächtige Mann ohnmächtig zusammengebrochen war. Er lag im Sand, streckte alle viere von sich, hielt das glühende Eisen jedoch noch in der rechten Hand. Zwischen den aufgequollenen Fingern stieg Rauch auf. Erst auf den Befehl des Priesters trat einer der Likedeeler hinzu, fasste das |481| glühend heiße Metall mit einer Zange und zog es weg. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Verbrennungen außerordentlich schwer waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie innerhalb von zwei Tagen abheilen würden. Selbst durch ein Wunder nicht. Viel wahrscheinlicher allerdings war, dass Hein Schwan die Hand verlor, weil die Verletzungen zu tief greifend waren.
»Es tut mir leid, dass wir dich verdächtigt haben, Greetje«, bedauerte der Priester, und seine Worte klangen wie eine Entschuldigung.
Sie neigte den Kopf und schwieg. Sie verspürte eine bedrohliche Schwäche in den Beinen. Vor aller Augen sank sie auf die Knie, faltete die Hände vor der Brust und senkte den Kopf zu einem stummen Gebet, indem sie Gott um Abbitte dafür bat, dass sie Inga und Kort nicht verriet.
Claas Störtebeker blickte unzufrieden in den Nebel hinaus.
»Ungewöhnlich für diese Jahreszeit, dass er sich nicht auflöst«, sagte er. »Eine derartige Suppe gibt es sonst nur im Herbst. Liegt wohl daran, dass sich der Wind gelegt hat.«
Seit Stunden trieben sie auf der Nordsee, ohne einen Orientierungspunkt zu haben. Sie konnten nah unter der Küste sein, es war aber auch möglich, dass die Strömung sie weit hinaus aufs offene Meer getrieben hatte.
Alle Männer hielten sich an Deck auf, einige reparierten so leise wie möglich die entstandenen Schäden, andere standen an der Reling, mit der Waffe in der Hand, hielten Wache und
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