Der Blutrichter
immer wieder nach, so dass es schien, als verlöre sie allmählich an Kraft und Temperament. Je langsamer die »Möwe« aber wurde, desto geringer wurden ihre Chancen, den Häschern zu entkommen.
Hinrik beobachtete, wie der Sohn Wilham von Cronens hinter dem Mast in Deckung ging und von dieser sicheren Position aus das Kommando für das Katapult an Bord seines Schiffes erteilte. Die Männer gaben den Schwunghebel frei, und der Topf mit dem brennenden Öl flog heran – verfehlte die »Möwe« aber und stürzte unter dem triumphierenden Gebrüll der Vitalienbrüder ins Wasser. Die Flammen erloschen.
Gödeke Michels fluchte und bedachte Christoph mit den übelsten Worten. Er nahm einem der Männer die Armbrust ab, zielte kurz und schoss zur nächsten Kogge hinüber. Der kleine Pfeil verfehlte sein Ziel. Er schlug im Holz des Mastes ein, kaum eine Handbreit neben Christoph von Cronens Kopf. Dieser sprang erschrocken zur Seite und versteckte sich hinter einigen Männern.
»Seht Euch diese feige Ratte an«, rief Störtebeker. »Er |485| schickt die anderen vor, während er sich am liebsten unter Deck verkriechen würde.«
Nachdem Gödeke Michels mit seinem Schuss den Kampf eröffnet hatte, schlugen die Hanseaten zurück. Da die beiden Schiffe einander nun immer näher kamen, erwiderten sie das Feuer und griffen mit Armbrüsten sowie Pfeil und Bogen an. Ein Pfeil flog zischend an Hinrik vorbei, der sich gedankenschnell geduckt hatte, und schlug hinter ihm ins Holz. Einer der Männer neben Störtebeker schrie auf. Ein Pfeil steckte in seiner Brust.
Mit ruhiger Stimme erteilte der Anführer der Freibeuter seine Befehle. Schulter an Schulter mit den Likedeelern warf Hinrik mit Leinen verbundene Enterhaken zu der Kogge hinüber, um danach mit aller Kraft daran zu ziehen, so dass der Abstand zwischen den beiden Schiffen rasch geringer wurde. Währenddessen schossen die Männer der Hanse und die Freibeuter mit Pfeil und Bogen sowie mit den Armbrüsten aufeinander, Lanzen und Beile flogen von einem Schiff zum anderen.
Als einer der Schützen neben ihm getroffen zusammenbrach, nahm Hinrik dessen Armbrust, legte einen Pfeil ein, spannte, zielte kurz und traf den Mann an der Schulter, der drüben das Kommando führte. Damit sorgte er für Verwirrung auf der Kogge der Hanse, da niemand das Kommando zu übernehmen schien. Von Christoph, der hätte einspringen können, war nichts mehr zu sehen. Hinrik vermutete, dass er tatsächlich unter Deck geflüchtet war. Einige Männer forderten lauthals, sich abzusetzen und es den anderen Schiffen zu überlassen, die »Möwe« auszuschalten.
Eine plötzliche Böe trieb die beiden Schiffe trotz der Leinen auseinander, die sie miteinander verbanden. Hinrik sah, wie sich das mächtige Segel der »Bunten Kuh« blähte. Der auffrischende Wind verlieh ihr eine erstaunliche Geschwindigkeit.
|486| Die »Bunte Kuh« war mit ihrem hoch aufragenden Bug in seinen Augen gewaltig und ungeheuer bedrohlich. Den einen oder anderen Seemann ließ sie vor Furcht erstarren, wenn sie sich mit schier erdrückender Macht näherte. Hinrik blieb gelassen. Er bewunderte sie, weil sie ein Meisterwerk der Schiffsbaukunst war, aber sie beeinträchtigte seinen kühlen Verstand keinen Atemzug lang. Im Gegenteil. Als sie sich näherte, lächelte er.
Die Kommandos Störtebekers hallten über Deck. Heiner Wolfen riss das Ruder herum, während die anderen Männer die Leinen zur Kogge kappten. Wie verwachsen stand der kleine kräftige Mann mit dem krausen braunen Haar auf den Schiffsplanken. Träge drehte sich die »Möwe« im Wind und nahm zugleich Fahrt auf. Nicht schnell genug. Die »Bunte Kuh« versuchte sie zu rammen. In dieser schier aussichtslosen Situation gelang es Heiner Wolfen, das Schiff erneut zu drehen, so dass der Rammstoß lediglich das Heck streifte. Dennoch war der Zusammenprall so heftig, dass die Schnigge sich bedrohlich zur Seite neigte. Hinrik klammerte sich an die Reling. Für Sekunden stellte sich das Deck beinahe senkrecht. Es schien, als würde die »Möwe« kentern.
Dann plötzlich richtete sich die Schnigge wieder auf. Das riesige Schiff rauschte vorbei, und von ihrem Heck herab regnete es Pfeile, von denen jedoch nur wenige ihr Ziel erreichten. Im Sog des großen Schiffes nahm die »Möwe« Fahrt auf. Der dichte Gürtel der Hanse-Koggen öffnete sich, um die »Bunte Kuh« durchzulassen und einem unfreiwilligen Rammstoß zu entgehen. Durch die entstandene Lücke glitten sowohl das riesige
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