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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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spähten in den Nebel hinaus. Vordringlich galt es, den Mast zu errichten. Es galt, die »Möwe« wieder manövrierfähig zu machen. Sobald Wind aufkam, musste die Schnigge Fahrt aufnehmen und die schützende Küste |482| aufsuchen. Hinrik beobachtete die Arbeiten mit wachsender Bewunderung. Zu Anfang hatte er sich nicht vorstellen können, dass es überhaupt möglich war, die Schäden zu beheben. Er war eines Besseren belehrt worden. Die Zimmerleute hatten alles an Bord, was sie für die Reparaturen benötigten.
    Hin und wieder ließ Störtebeker die Arbeiten unterbrechen. Dann wurde es absolut still an Bord, und alle horchten in den Nebel hinaus. In keinem Fall aber zeigten ihnen Geräusche an, dass ein anderes Schiff in der Nähe war.
    Als der Mast endlich aufgerichtet war und das Segel gesetzt wurde, machte sich Erleichterung breit. Jetzt konnte man sich möglichen Verfolgern stellen und notfalls die Flucht antreten. Nun hieß es, auf den Wind zu warten. Ein Mann kletterte den Mast hinauf bis in den Korb, konnte von dort jedoch nicht mehr erkennen als die Männer an Deck. Der Nebel reichte bis weit über die Mastspitze hinaus, und er war so dicht, dass man vom Heck der Schnigge aus den Bug kaum sehen konnte.
    Die Seeleute waren unruhig. Sie mochten den Nebel nicht. Er war ihnen unheimlich, und er verunsicherte sie. Er vermittelte ihnen das unangenehme Gefühl, hinter der milchig undurchsichtigen Wand könnte sich etwas Unheimliches und Bedrohliches verbergen, das sich ihnen unaufhaltsam näherte. Während sie warteten und in den Nebel hinausblickten, gaukelte ihnen ihre Fantasie beängstigende Bilder vor. Sie erinnerten sich an nächtliche Gespräche in den Kneipen und an den Lagerfeuern, in denen von Seeungeheuern die Rede war, die auf ihrer Jagd nach Opfern die Schiffe belauern und jeden Unvorsichtigen unbarmherzig von Bord holen, um ihn lautlos in der See verschwinden zu lassen. Beim Zuhören an Land hatten einige von ihnen gelacht und die Berichte ins Reich |483| der Lügen verbannt, nun aber nagte der Zweifel an ihnen. Sie meinten, einen gleitenden Schatten unter Wasser wahrzunehmen, und mit rasendem Herzen fragten sie sich, ob nicht doch das eine oder andere der Wahrheit entsprach, ob nicht ebenso unheimliche wie rätselhafte Wesen um das Schiff herumschlichen, getrieben von der Gier nach menschlichen Fleisch und Blut. Oder – schlimmer noch – auf der Jagd nach ihren Seelen.
    Erst gegen Abend, vor Einsetzen der Dämmerung, wurden sie erlöst, als sich der lang erwartete Wind einstellte, der zugleich den Nebel allmählich vertrieb. Jetzt standen die Männer an der Reling und blickten in alle Richtungen. Mit dem schwindenden Nebel klärte sich die Sicht. Niemand sprach. Es war so leise, dass lediglich das Glucksen des Wassers am Schiffsrumpf und das verhaltene Knarren der Takelage zu hören waren. Auch als die ersten Koggen in Sicht kamen, durchbrach niemand das Schweigen. Hinrik zählte vier, fünf – schließlich siebzehn Schiffe. Rund um die »Möwe« herum. Dazu die »Bunte Kuh«, die etwas weiter entfernt war als die anderen. Keine der Koggen war näher als eine Meile, doch das änderte sich nun schnell. Der Wind blähte die Segel, und die Schiffe nahmen Fahrt auf.
    »Das wird hart«, sagte Störtebeker, der neben dem Ruder stand und Heiner Wolfen Kommandos gab. »Sehr hart.«
    »Wir sind schneller als alle anderen«, entgegnete Gödeke Michels brummend. Mit beiden Händen fuhr er sich durch das krause, schulterlange Haar, um es mit einem Ruck nach hinten zu streichen. »Die haben uns noch lange nicht.«
    Hinrik kannte sich in der Seefahrt zu wenig aus, um die Lage ausreichend beurteilen zu können. Die »Möwe« befand sich in einem Kessel aus Schiffen der Hanse und |484| musste an irgendeiner Stelle ausbrechen. Da der Wind schwach war, kam sie nur langsam voran. Ganz gleich, welchen Kurs sie nahm, die Kapitäne der anderen Schiffe reagierten und rückten von allen Seiten immer näher. Schnelligkeit und Wendigkeit aber konnte die Schnigge erst bei stärkerem Wind ausspielen. Gödeke Michels fluchte. Es gab keinen Zweifel mehr, dass es zum Kampf kommen würde. Wo der Raum zum Navigieren allzu eng wurde, waren den nautischen Fähigkeiten eines Störtebekers Grenzen gesetzt.
    Immer wieder blickte der Anführer der Likedeeler zur Mastspitze und zu der weißen Fahne mit dem schwarzen Stierkopf hinauf. Bei jedem Windstoß entfaltete sie sich und streckte sich zu ihrer ganzen Länge, doch der Wind ließ

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