Der Blutrichter
des Arztes. Nun blieb Greetje stehen und schlang die Arme um ihn, schmiegte sich fest an ihn und küsste ihn so lange und so liebevoll wie nie zuvor. Und sie entzog sich ihm nicht sogleich wieder, sondern blickte ihm in die Augen, um ihn dann noch einmal zu küssen. Er wollte etwas sagen, doch sie legte ihm die Hand auf die Lippen, lächelte nur still, löste sich von ihm und trat auf die Haustür zu. Sie sah noch einmal zu ihm zurück, als sich die Haustür öffnete und der Arzt erschien.
Hans Bargs Gesicht war stark gerötet und verquollen. Die Augen blickten ins Leere, und er musste sich abstützen, um sich auf den Beinen halten zu können. Greetje schob ihren Vater rasch ins Haus und schloss die Tür. Hinrik blieb betroffen ob des plötzlichen Abschieds vor dem Haus stehen und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Für einen kurzen Moment hatte er Hans Barg gesehen. Im Inneren des Hauses flackerte eine Kerze und spendete ein wenig Licht, zu wenig allerdings, um erkennen zu können, in welchem Zustand sich der Arzt befand. Hinrik war dennoch sicher, dass Greetjes Vater weitaus mehr getrunken hatte, als ihm bekommen war.
Er dachte sich nichts dabei. In den dunklen Wintermonaten tranken viele über den Durst hinaus. Die Nächte waren lang. Da führte allein die Langeweile manchen Zecher in die Wirtshäuser.
|186| Er ging zum Hafen, um im »Goldenen Anker« ein Bier zu trinken. In den verwinkelten Straßen war es ruhig. Es begann zu schneien, und vom Westen her fegte ein frostig kalter Wind. Er trieb die Schneeflocken vor sich her, bis in die letzten Winkel, so dass manches Elend unter einem gnädigen weißen Tuch verschwand.
Kurz bevor Hinrik den »Goldenen Anker« erreicht hatte, vernahm er plötzlich Hufschlag. Rasch trat er in eine Nische. Keinen Atemzug zu früh, denn im nächsten Moment galoppierte ein riesiges Pferd mitsamt Reiter vorbei. In der Dunkelheit konnte er keine Einzelheiten erkennen. Das änderte sich erst, als Pferd und Reiter den »Goldenen Anker« erreichten. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Wirtshauses. Licht fiel heraus und erfasste den bronzenen Ritter. Mehrere Männer, die gerade aus dem »Goldenen Anker« kamen und sich auf den Weg nach Hause machten, gerieten dem Reiter in die Quere. Dieser jedoch wich keine Handbreit zur Seite, sondern stürmte mit seinem Ross mitten in die Gruppe hinein, riss mehrere Männer zu Boden. Und dann jagte der bronzene Ritter in die Dunkelheit, und der Schnee verschluckte den Klang der Hufe.
Hinrik rannte zu den Männern hin, die vor Schmerz schrien. Sie konnten sich kaum mehr bewegen.
»Der Arzt muss kommen«, rief jemand. »Schnell, lauft zu Hans Barg. Er muss helfen.«
Hinrik kniete sich neben die Verletzten auf den Boden und untersuchte sie flüchtig. Er stellte fest, dass einige sich Arme und Beine gebrochen hatten, während andere sich an den scharfen Kanten der Ritterrüstung geschnitten hatten.
»Nein, holt einen anderen Arzt«, sagte er zu den Männern. »Ich war gerade bei Hans Barg. Er hat so viel getrunken, dass er kaum mehr auf den Beinen stehen kann.«
|187| »Er wird sich noch mal zu Tode saufen«, befürchtete einer aus der Gruppe. Die Wirtshaustür ging erneut auf, und eine Gruppe Neugieriger drängte heraus. Unter ihnen war Thore Hansen. Der Däne schwankte bei jedem Schritt. Er schien sich in einem ähnlichen Zustand zu befinden wie Hans Barg.
»Bringt sie in die Gaststube«, forderte er mit schwerer Zunge. »Drinnen ist es warm. Hier draußen erfrieren die armen Schweine, bevor der Medicus da ist.«
Aus den Worten ging hervor, dass sie einander gut kannten. Hinrik zog sich zurück. Er wurde nicht gebraucht. Er sah noch zu, wie die Verletzten ins Gasthaus getragen wurden, dann wandte er sich ab und machte sich auf den Weg zu seinem Boot. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Mond trat durch die Wolken. Er erhellte die Gassen, so dass Hinrik die beiden Männer gut sehen konnte, die sich auf der Brücke über seinem Boot trafen. Er blieb vor einem der Lagerhäuser stehen und fragte sich, ob die beiden wieder Informationen über einen bevorstehenden Raub austauschten. Um die Seefahrt konnte es dieses Mal nicht gehen. Die Alster war zugefroren, und er hatte gehört, dass sich sogar auf der Elbe Eisschollen gebildet hatten. Unter diesen Umständen konnte es kein Kapitän wagen, den sicheren Hafen zu verlassen.
Wenn sich jedoch zwei Männer mitten in der Nacht auf der Brücke trafen und miteinander redeten, dann
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