Der Blutrichter
sie ihren Besucher mit offenen Augen an, und ihr Antlitz glättete sich. Die Falten des Argwohns verschwanden. »Wenn er sein Feind ist, dann ist das die halbe Miete.«
Greetje wandte sich an Hinrik. »Mutter Potsaksch ist davon überzeugt, dass von Cronen Schuld am Tode ihres Mannes ist. Der Ratsherr hat ihn bei ungünstigen Wetterbedingungen mit einem Schiff auf die Nordsee hinausgeschickt, das nicht seetüchtig war und dringend hätte überholt werden müssen. Das Schiff hat sein Ziel nie erreicht. Anzunehmen, dass es mit Mann und Maus untergegangen ist.«
»Er kann hier wohnen«, entschied die alte Frau und warf einen Blick zur Decke. »Ich habe unter dem Dach eine Kammer. Sie steht schon lange leer. Da kann er einziehen. Aber nicht umsonst!«
»Natürlich nicht. Hinrik zahlt selbstverständlich einen Mietzins. Und er hilft Euch im Haus, wenn es nötig ist.«
Hinrik berichtete Mutter Potsaksch, dass er im Hafen gearbeitet hatte und kaum hoffen konnte, vor Beginn des Frühjahrs wieder Arbeit zu finden. Allerdings reichte das gesparte Geld für die Miete und für seine Verpflegung, für die er jedoch selbst zu sorgen hätte. Allzu lange durfte der Winter nicht dauern. Ließ das Frühjahr auf sich warten, würde es knapp werden. Daran aber dachte er nicht. Er blickte optimistisch in die Zukunft. Immerhin war es Dank Greetjes Hilfe gelungen ein weitaus besseres Quartier zu finden, als er bisher gehabt hatte.
Zusammen mit Greetje stieg er eine schmale, knarrende Treppe hinauf, so steil wie eine Leiter, um sich die Kammer anzusehen. Sie war in der Tat winzig, jedoch größer als das Boot, und verfügte über eine kleine Luke, die mit einem Holzladen verschlossen war und ihm einen |194| unschätzbaren Vorteil bot. Als er sie öffnete, konnte er auf den Hafen hinausblicken. Ungestört konnte er von hier aus beobachten, was im Hafen geschah.
»Danke, Greetje«, sagte er. »Besser hätte ich es nicht treffen können.«
Sie sahen einander an, er legte seine Hände an ihre Hüften und zog sie sanft an sich. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, und sie küssten sich lange und leidenschaflich, bis sie sich seufzend von ihm löste und meinte, es sei nun wirklich Zeit für sie, nach Hause zu gehen. Ihr Vater könne auf ihre Hilfe nicht verzichten.
Sie stiegen die Treppe hinunter, und Hinrik begleitete sie durch die dunklen Gassen bis vor ihre Haustür, wo sie sich mit einem weiteren Kuss von ihm verabschiedete.
»Pass auf dich auf«, bat sie mit einem scheuen Lächeln. »Wenn du jetzt zu Mutter Potsaksch gehst, denke nicht an mich, sondern daran, dass man dich überfallen könnte.«
»Ich werde beides tun«, versprach er. »Aufmerksam sein und an dich denken.«
Sie sah ihn beinahe beschwörend an. »Dass man dein Boot zerstört hat, war eine Warnung. Deshalb solltest du in den nächsten Tagen und Nächten besonders vorsichtig sein.«
»Ich werde in meiner Kammer bleiben und gar nichts tun.« Er wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, und kehrte dann in das Schollenhaus zurück, wo die alte Frau am Kamin saß und regungslos ins Feuer starrte.
»Erzählt mir von Euch«, forderte sie. »Ich will wissen, wer Ihr seid und was Ihr bisher gemacht habt. Hamburger seid Ihr jedenfalls nicht. Das höre ich an Eurer Sprache. In welchem Kloster hat man Euch erzogen?«
Sie war eine erstaunliche Frau, die nicht so leicht zu täuschen war. Er beschloss, ihr vorbehaltlos die Wahrheit |195| zu sagen. Er begann damit, wie er nach dem Tode seines Vaters als Knappe ins Kloster gegangen war, um sich von einem äußerst kurzsichtigen Mönch unterrichten zu lassen. Mutter Potsaksch hörte interessiert zu und stellte hier und da Fragen, die verdeutlichten, dass sie über eine gewisse Bildung verfügte, wenngleich sie weder lesen noch schreiben konnte.
Es wurde eine lange Nacht. Der Ritter und die alte Frau plauderten bis zum Morgengrauen miteinander, und je länger sie redeten, desto mehr wuchs das gegenseitige Vertrauen. Als er schließlich zum Schlafen die Stiege hinaufkletterte, wusste er, dass er eine Verbündete in seinem Rachezug gegen Wilham von Cronen gefunden hatte. Ihr Mann war vor mehr als zwanzig Jahren in der Nordsee ertrunken. Seitdem träumte sie davon, sich an von Cronen zu rächen, war sich aber darüber klar gewesen, dass sie selbst niemals die Möglichkeit dazu haben würde. Als Frau konnte sie nichts gegen den wohl mächtigsten Mann der Stadt Hamburg ausrichten.
Er hielt sein Versprechen, verließ
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