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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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wussten sie, dass er Hinrik vom Diek war, jener Ritter, dem Wilham von Cronen den Tod angedroht hatte, falls er es wagen sollte, nach Hamburg zu kommen?
    Mit den Händen tastete er sich voran. Er fühlte, dass sein Boot nur noch ein Wrack war, das nie wieder schwimmen würde.
    Er wusste Bescheid. Er zog sich an den Hölzern entlang und tastete sich bis zum Bug vor, wo es ihm gelang, ein locker sitzendes Brett zu lösen und den kleinen Beutel mit seinen bescheidenen Ersparnissen herauszuholen. Der Ohnmacht nahe kämpfte er sich zum Ufer zurück, zog sich hoch und sank schwer atmend und am ganzen Körper zitternd in den Schnee. Er wehrte sich gegen die aufkommende Müdigkeit, die von der eisigen Kälte kam und die ihn dazu verführte, einfach liegen zu bleiben. Mit klammen Händen streifte er sich seine Kleidung über, schleppte sich an den Lagerhäusern entlang und fand endlich eine nachlässig verschlossene Tür. Er öffnete sie und tastete sich durch die Dunkelheit, bis er einige Säcke aus grobem Stoff fand. Am ganzen Körper zitternd wickelte er sich darein ein, bis die Kälte endlich, endlich von ihm wich und die Müdigkeit ihn übermannte.

|191| Ein wichtiger Zeuge
    Greetje überlegte nicht lange, als er ihr am nächsten Abend erzählte, was mit seinem Boot und mit ihm geschehen war.
    »Du brauchst eine Unterkunft«, sagte sie und ging ohne Umstände auf die vertraulichere Anrede über. »Noch für diese Nacht. Sofort.« Sie nickte entschieden, fasste einen Entschluss, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einem winzigen Fachwerkhaus am Hafen. Es war eingekeilt zwischen Lagerhäusern und so schmal, dass vorn kaum Platz für die Tür und ein Fenster war.
    »Das ist das Schollenhaus«, erklärte sie. »Man nennt es so, weil es so schmal wie eine aufgehängte Scholle ist. Es gehört der Kapitänswitwe Mutter Potsaksch. Sie schuldet mir einen Gefallen. Also, eigentlich meinem Vater, weil er ihr als Arzt geholfen hat, als andere bereits aufgegeben hatten. Aber das ist egal. Er oder ich. Hauptsache sie erinnert sich daran.«
    Sie pochte an die Tür. Schlurfende Schritte näherten sich, und eine heisere Stimme fragte: »Wer ist da?«
    »Ich bin es, Greetje Barg«, antwortete die junge Frau. Ein unbestimmbares Geräusch war zu hören, dann öffnete Mutter Potsaksch die Tür. Sie hatte lange weiße Haare, die ihr in Strähnen herunterhingen. Trotz ihres hohen Alters von sicherlich mehr als sechzig Jahren hielt sie sich auffallend gerade. Der Rock reichte ihr bis auf die Füße hinab, die in dicken Wollsocken steckten. Da sie kaum noch Zähne hatte, waren ihre faltigen Lippen eingefallen, |192| was ihrem Mund ein eigenartig verkniffenes Aussehen verlieh.
    »Was wollt Ihr von mir Greetje?«, schnarrte die Kapitänswitwe und forderte die beiden mit energischer Geste auf, das Haus zu betreten. »Beeilt Euch gefälligst. Es ist kalt. Die Wärme aus dem Haus ist schnell verflogen, wenn Ihr vor der Tür steht und Maulaffen feilhaltet.«
    Hinrik lächelte. Die Alte gefiel ihm. Sie war energisch und wusste offenbar genau, was sie wollte. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich. Mutter Potsaksch schlurfte vor ihnen her, und bei jedem Schritt schien sie sich ein wenig mehr aufzurichten. Mit ihrer stolzen Haltung unterstrich sie, dass dies ihr Haus war, ihr Reich, und dass sie hier das Sagen hatte und niemand sonst. In einer winzigen Stube brannte Feuer im Kamin. Eine fette Katze lag davor. Sie schenkte den Besuchern keinen einzigen Blick, die Ohren rührten sich nicht. Es war ihr Platz, den sie sich von niemandem streitig machen lassen würde.
    Die Kapitänswitwe setzte sich auf einen kunstvoll gefertigten Stuhl, der einzigen Sitzgelegenheit in diesem Raum, und blickte ihre Besucher argwöhnisch an. In diesem Moment wirkte sie beinahe feindselig und so abweisend wie der Raum, dessen Holzdecke so niedrig war, dass Hinrik nur mit gebeugtem Haupt darin stehen konnte.
    »Also, was wollt Ihr von mir, Greetje?«, wiederholte sie ihre Frage. Sie hob das dünne, spitze Kinn. »Wollt Ihr diesen Kerl bei mir verstecken?«
    »Nicht direkt, Mutter Potsaksch«, erwiderte die junge Frau. »Hinrik vom Diek ist dem Ratsherrn von Cronen irgendwie in die Quere gekommen. In der vergangenen Nacht hat man das Boot versenkt, auf dem er bisher geschlafen hat. Möglicherweise hat von Cronen damit zu tun. Wir wissen es nicht. Jedenfalls sucht er ein Quartier.«
    |193| »Von Cronen!« Aus ihrem Mund klang der Name wie ein Schimpfwort. Nun blickte

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